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Alt 15.11.2016, 13:26   #1
Kokochanel
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Standard Sektenklüngel

Sektenklüngel

Menschen suchen Halt, Menschen suchen Tiefe in einer Welt, die oberflächlich und brutal ist. Charismatische Führer haben es da leicht, diesen Menschen in einem von ihnen selbst definierten Glauben eine bessere Lebensform einzureden.
Dies geht natürlich nur in einer abgeschlossenen Gesellschaft, die sich dem Tun der Restwelt verschließt. Im Glauben, zu den Guten zu gehören, folgen die Menschen, werden zu Anhängern, vertrauen nicht selten einer Führungselite, die sie nur benutzt und ausbeutet.
Ein besonders krasses und aufwühlendes Beispiel ist die Sekte Colonia Dignidad, die von dem 1961 nach Chile geflohenen Paul Schäfer gegründet wurde. Er war verurteilt wegen Kindesmissbrauchs und Gewalttaten. Man fragt sich, wie Menschen so einem vertrauen konnten.
Auf einem riesigen Landgut 400 km von der Hauptstadt entfernt lebten etwa 300 Sektenanhänger unter unvorstellbaren Bedingungen. Nach außen hin präsentierte man sich als saubere, christliche Sekte, doch nach innen hin wohnten Männer und Frauen nicht einmal gemeinsam. Familien wurden auseinander gerissen, die Kinder missbraucht und zu Arbeitssklaven degradiert.
Man fragt sich, wie so etwas auf einem zwar großen, aber doch überschaubaren Gelände überhaupt möglich ist. Wie erwachsene Menschen sich so etwas unterordnen können. Wie fanatisch und schräg muss ein Glaube sein, der einen solches akzeptieren lässt?

Dessen nicht genug wurden die Mitglieder mit Elektroshocks gequält, die an Nazi-Folter erinnern.
Kinder wurden regelmäßig missbraucht und geschlagen. Die, die fliehen wollten, wurden mit Medikamenten ruhig gestellt, ein Opfer erzählt, dass es bis zu 21 verschiedene Pillen am Tag schlucken musste.
Zerstörte Seelen, zerstörtes Leben. Die Alten leben heute noch da, werden in einer Art Altersheim versorgt. Ein Leben in der Hölle, ein Leben lang.
Das berührt, wühlt auf. Besonders da es in den 60 iger bis 80 iger Jahren statt fand, also in einer Zeit, wo viel junge Menschen in Aufbruchstimmung und frei wie der Wind in Deutschland waren.

Das Gelände war hermetisch abgeriegelt, bewacht wie ein Gefängnis. Fliehende, die sich an die deutsche Botschaft wandten, wurden zurück geschickt. Einige, die sich an die kanadische oder österreichische Botschaft wandten, schafften die Flucht und deckten Jahre später auf. Außenminister Steinmeier will dieses rabenschwarze Kapitel von deutschem Diplomatenversagen nun aufarbeiten, sucht Erklärungen für die wenigstens naive Kollaboration der Botschaft mit dem chilenischen Staat. Die gefürchtete Folterkolonie wurde noch bis Ende der Siebziger gerne auch von Pinochets Schergen benutzt, um dort Folterkandidaten im Kartoffelkeller zu schinden. Die sadistischen Deutschen dort wussten, wie es ging.
Das ist so gruselig, dass einem der Atem stockt.

Der Helfershelfer Hartmut Hopp, der als Arzt für die Geueltaten ebenso verantwortlich war wie der Leiter Schäfer, lebt heute unbehelligt in Krefeld. Geflohen nach seiner noch nicht rechtskräftigen Verurteilung in Chile, wartet man hier auf die rechtlich korrekten Abläufe, nach denen man ihn auch hier belangen kann. Steinmeier will Aktenfreigaben beschleunigen, seine Empathie und sein Entsetzen wirken echt. Aber auch er kann nur Sühne herbeiführen. Das verpfuschte Leben kann er den Menschen nicht zurück- geben.

Was können wir heute aus dieser schrecklichen Geschichte lernen, wo Scientology und IS wieder mit Glaubensthesen aufmarschieren und ihre Menschenfänger schicken?
Wir lernen daraus, dass es „die Besseren“ nicht gibt, wohl aber die, die ihre Machtgelüste und Gewaltphantasien legitimieren wollen in einer abgeschotteten Gemeinschaft.
Wir lernen daraus, dass es niemanden gibt, der uns eine perfekte Welt erschaffen kann, indem er neue Regeln aufstellt, die nicht hinterfragt werden dürfen.
Wir lernen daraus, dass es besser ist, einmal mehr als widerspenstig und zickig zu gelten, als sich fraglos unterzuordnen.
Wir lernen daraus, dass Heilsbringer und Sektierer selten das Glück ihrer Mitglieder im Auge haben, sondern nur ihr eigenes.
Und wir lernen daraus, dass Menschen schnell vergessen und dies auch wollen. Auf dem ehemaligen Gelände der Colonia Dignidad betreiben die Mitglieder, die dort noch leben, nun die Villa Baviera, ein touristisches Ausflugziel mit Eisbein und Sauerkraut, mit deutschem Bier und Spaß.
Laut dröhnt das Gelächter der unbedarften Ausflügler bis in die Tiefen der dunklen Keller, die denen verschlossen bleiben, die die schöne Landschaft und das gute Essen genießen möchten.
Die Opfer werden wohl nie vergessen. Und sie bleiben. Wo sollen sie auch hin? Sie haben nur das.

Es sind Menschen im Alter meiner Eltern, in meinem Alter. Es sind unsere Generationen, nicht finsteres Mittelalter - das ist das Unvorstellbare daran. Menschen, die man so malträtiert hat, dass sie sich ein freies Leben offenbar woanders nicht vorstellen können, geprägt und gefangen in sich selbst und in ihrer traumatischen Vergangenheit.

Denken wir daran, wenn uns der nächste Guru die Erlösung der Welt verspricht. Denken wir daran, wenn es uns so vorkommt, als wären wir im Leben schlecht dran.
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