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Alt 02.02.2010, 09:00   #1
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Standard Der alte Herr Riemer

Der alte Herr Riemer


Herr Riemer schaute in seinen betagten Spiegel: „Du bist alt geworden, mein Lieber.“

Der Spiegel jedoch blieb stumm, wie er es stets tat.

„Du bist so schrecklich unbestechlich, habe ich dich nicht immer wie einen guten Freund behandelt?“, sagte Herr Riemer und schnitt eine Grimasse.

So ehrlich, wie nur ein guter Freund sein konnte, zeigte der Spiegel ihm sein wahres Gesicht; und die Fältchen um die Augen waren zu Furchen geworden, die grauen Stellen im Bart breiteten sich unaufhaltsam aus, das Haar wurde lichter…

„Schau mich nicht so an!“, raunzte er seinem Gegenüber zu, „du tust, als wüßtest du alles. Nichts weißt du, gar nichts!“

Zwei wässrige blaue Augen starrten ihm entgegen. Vorwurfsvoll, traurig über schlaffen Tränensäcken klagten sie ihn an.

„Was du immer nur hast, mach es doch besser“, höhnte Herr Riemer, „ach du kannst es nicht? Was kannst du denn überhaupt? Du bist doch dort drin gefangen.“

Traurig reckte sich ihm eine geschwollene Nase entgegen, deren dunkelblaue, verzweigte Äderchen sich wie kleine Bäche durch eine zerklüftete Landschaft, die mit harten schwarzen Bartstoppeln bewaldet war, zogen.

„Du bist nicht ich, sag es mir. Sag es mir einmal nur, sprich mit mir!“, seine Worte schluchzten aus ihm heraus und er sah, wie zwei dicke Tränen über die groben Poren seiner Wangen liefen und im struppigen Dickicht seines Bartes versickerten.

„Ich habe doch nur dich, dich ganz allein. Rede mit mir, ohne dich könnte ich diese elende Einsamkeit nicht ertragen. Rede, rede, sag etwas…!“

Doch der Spiegel blieb stumm, wie er es stets tat, wie er nie etwas anderes getan hatte.
Herr Riemer ballte seine Faust und hieb mitten hinein, sodaß das Glas zerbarst und mit einem häßlichen Geräusch in tausend kleine Splitter zerfiel.

Seine blutende Hand ignorierend legte er sich auf sein Bett, den Blick auf den blinden, zerbrochenen Spiegel gerichtet, starr, gefühllos, kalt, endgültig…

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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)




Geändert von Falderwald (04.02.2010 um 07:07 Uhr) Grund: Aufgrund Leseranregung
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