17.08.2014, 16:52 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Verwaistes Laub
„Unsere Cousinen und Nichten haben sich zum Herbstball angekündigt, sowohl die AufDu und die AufSie“, sagte B., und behauptete, von denen AufSie wären manche heimlich AufDu, und sie trügen Laub unter ihren Röcken, entblätterten sich um Mitternacht, schon seit einigen Jahren, seit die Bäume verschwunden waren aus der Stadt. Nach jedem Herbstball stieße man auf dieses verwaiste Laub auf den Bürgersteigen.
„Verwaist? Ich würde es eher mit entfremdet bezeichnen.“ Ich führte B. dann schweigend weiter bis an den Stadtrand, wo ich stockte und unter einem leichten Räuspern meinen Zeigefinger auf den Boden richtete: „Siehe dort, liegt eine größere Frucht.“ „Wo?“ „Unterm Kirschbaum.“ „Ja, wahrlich“, frohlockte B., „ein verwaister Apfel.“ „Du immer mit deinem verwaist.“ „Na ja, normalerweise fällt ein Apfel nicht weit von seinem Stamm. Würdest du zum Beispiel ein Kätzchen ohne seine Mutter auffinden, sprächst du wohl ebenfalls von dem Tier als verwaistes.“ „Ja, wenn seine Eltern tot wären.“ „Nein, auch solange man sich dessen nicht sicher ist.“ „Und wenn der Kirschbaum den Apfel adoptiert hat.“ „Ja, dann. Och, welch ein Blödsinn, ein Kirschbaum, der einen Apfel adoptiert.“ „Und was ist mit deinem Beispiel, dem verwaisten Kätzchen? Wenn man es so anwendete, wie du es meinst, könnten alle Kinder, die ohne Mütter rumliefen, in den Verdacht geraten, als Waisenkinder zu gelten.“ „Nein, bei Menschen doch nicht. Sie sind authentifiziert“, widersprach B. entschieden. „Aber Laub als verwaist zu bezeichnen, ist ganz daneben, denn es ist ja keine Frucht des Baumes, wie ein Kind die Frucht seiner Eltern, sondern eher wie Haare, die man regelmäßig verliert.“ „Und ließe man sich eine Perücke fertigen aus den Haaren, könnte man sie dann als adoptiert bezeichnen?“ B. grinste und ich antworte mit einem kurzen „Quatsch!“ Das alles erzählte B. beim Empfang auf dem Herbstball, worauf jene Nichten und Cousinen, die sich um Mitternacht entblätterten, vorher ihre Schamhaare abrasiert hatten. Später entdeckte man diese unter ihrem Entblätterungslaub. Dann traf ich B. zufällig wieder vor dem Lokal, in dem der Herbstball stattgefunden hatte. B. warf einen Blick hinein durchs Fenster. „Verwaist!“, stellte B. fest. „Und warum bezeichnet man unbehauste Häuser als verwaist, selbst wenn sie von Leuten verlassen wurden, die sie nicht selber erbaut haben, jene also keine eigenen Früchte darstellten?“ „Na, so geschieht es keineswegs aus demselben Grund, weswegen ein herrenloses Kätzchen als verwaist durchgehen könnte.“ B. und ich spazierten gemeinsam bis an den Stadtrand. Der Apfel unter dem Kirschbaum lag nicht mehr da. „Ist vielleicht zu seinem Stamm zurückgerollt.“ „Nein, nein“, wusste B., „den hatte eine der Cousinen oder Nichten, eine von denen AufDu mitgenommen, und sich in den Schlüpfer gesteckt, anstelle der Blätter, aber passend zum Herbst, und weil es eben Fallobst ist.“ „Und wie wäre es mit dem Begriff Entziehung, anstelle von Verwaisung? Ist kurz und knackig, und ohne die Verwandten und ihren zugrundeliegenden Exhibitionismus zu entblößen.“ „Ich weiß nicht, entzogenes Laub, entzogenes Haar, entzogener Apfel, sind doch etwas anderes als entzogene Kinder.“ „Also belassen wir es bei „verwaistem Laub“, obgleich verwaistes Laub, verwaistes Haar und der verwaiste Apfel auch nicht analog erscheinen zum verwaisten Kätzchen, jedoch ebenfalls nicht zum verwaisten Haus." Betrachtet man sich im Nachhinein das Ergebnis unseres Geredes, hätte man sich dieses ersparen können. Aber es war bereits im Schulunterricht so, dass der Weg zum Resultat mehr zählte, vor allem, wenn es falsch war.
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"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne so, als hätten wir alles im Blick." (Fenek) |
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