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Alt 13.07.2017, 17:44   #1
Thomas
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Standard Gedanken über Schönheit

Naive und sentimentalische Schönheit

Wir betrachten eine Seerose im Teich und sagen spontan: "Wie schön!" Wenn wir einige Schriftzeichen betrachten, vielleicht in undeutlicher Handschrift hingeschrieben, dann werden wir diese wohl kaum als schön empfinden, ein Mathematiker vielleicht wird jedoch beim Anblick der Schriftzeichen sagen: "Diese Formel ist schön!"

Beides sind nur Extreme des Schönheitsempfindens, welche man in Anlehnung an Friedrich Schiller, der versuchte das Geheimnis objektiver Schönheit zu ergründen, als "naive" und "sentimentalische" Schönheit bezeichnen könnte.

Scheinbar rein gefühlsmäßig, ohne jegliches Nachdenken und Wissen um ein Ding, empfinden wir es als schön, wenn es frei und ohne Zwang aus sich selbst entstanden erscheint. Würde die Seerose z.B. von einem Stein oder einer anderen Pflanze in ihrer Entwicklung gehemmt, empfänden wir sie nicht mehr spontan als schön. Das naive Schönheitsempfinden erkennt also unbewusst eine innere Ordnung in den Dingen, ein "natürliches" Wachstums- oder Entwicklungsgesetzt, oder Gesetze der Biomechanik welche sich in dem Objekt entfalten, und zwar so, dass dieses Objekt uns ohne Nachdenken und Kenntnis der Gesetzmäßigkeit anspricht. Zwar können wir, wenn wir darüber nachdenken im Nachhinein diese Gesetzmäßigkeit sehr wohl erkennen, doch diese explizite Erkenntnis ist nicht Voraussetzung für das Schönheitsempfinden.

Das verdeutlicht auch, warum man eine Formel als schön empfinden kann, zwar nicht spontan, ohne jegliches Nachdenken und Wissen (als "naiv schön" ), sondern indem man die Entwicklungsgesetze und Ideen, welche diese Formel zum Ausdruck bringt, kennt und diese Gesetzmäßigkeit (als "sentimentalisch schön" ) im Geiste genießen kann.

Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass hierbei ein denkender Mensch notwendig ist, d.h. dieses sentimentalische Schönheitsempfinden ist zwangsläufig rein subjektiv, während das naive Schönheitsempfinden objektiv ist, da es von dem einzelnen Menschen nichts weiter fordert, als Offenheit für sinnliche Eindrücke. Trotzdem ist diese "Objektivität des Naiv-Schönen" nicht absolut, weil unsere Wahrnehmungsfähigkeit teilweise auch kulturell geprägt ist.

In der Realität kommen diese beiden Formen des Schönheitsempfindens meist gemischt vor und führen bisweilen zu Missverständnissen. Besonders bei Kunstwerken ist das der Fall. Typische Beispiele sind moderne Lyrik oder Musik, welche von einer kleinen Elite der Wissenden als schön empfunden werden, während der naiven Mehrheit die rein sentimentalische Schönheit dieser Werk verschlossen bleiben muss. Mozart hingegen (der gesagt haben soll: "Meine Musik ist für alle Ohren, nur nicht für die ganz langen." ) wandte sich vor allem an das naive Schönheitsempfinden der Hörer.

Bisweilen kann das sentimentalischen dem naiven Schönheitsempfinden völlig widersprechen, d.h. das Welt- und Menschenbild lässt Dinge als schön erscheinen, welche dem naiven Schönheitsempfinden, das immer die freie Eigengesetzlichkeit der Objekte sehen will, entgegengesetzt sind. Als Beispiel sei das Bild von im Stechschritt marschierenden Soldaten angeführt. Hier ist es gerade die Unfreiheit des Individuums, welche in einer zirzensisch spektakulären Bewegung versinnbildlich wird, die von dem Betrachter mit entsprechendem Menschenbild als schön empfunden wird. Als Gegenbeispiel betrachte man einen Sprinter, dessen Bewegung nach den Gesetzen der Biomechanik optimiert ist und vom naiven Betrachter, der von Biomechanik keine Ahnung zu haben braucht, als frei und schön empfunden wird.

Betrachtet man sogenannte "zeitlose" Kunstwerke verschiedener Epochen und Kulturen, so tragen sie allesamt Züge "naiver" Schönheit, weshalb sie noch nach Jahrhunderten und unabhängig von der Kultur in der sie entstanden sind, schön sind.
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© Ralf Schauerhammer

Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller
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