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Denkerklause Philosophisches und Nachdenkliches

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Alt 31.12.2016, 10:02   #1
Angelika
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Standard Der Enttäuschte

Erinnerst dich so mancher stolzer Träume,
die nie erfüllt, hast es zu oft erfahren,
an viel zu enge, eingeteilte Räume -
begreifst es jetzt nach angestrengten Jahren.

Erworbenes verlor an Wert und Glänzen.
So manches Mal hörst du im Rücken Lachen.
Denn jedes Wissen, weißt du, kennt auch Grenzen,
du hast kaum was den Enkeln zu vermachen.

Was Hoffen heißt, das hast du längst vergessen,
mit einem Fuß stehst du bereits im Grabe.
Ins Herz hat Skepsis sich tief eingefressen,
und jetzt ist sie die teure letzte Habe.
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Alt 31.12.2016, 17:18   #2
Erich Kykal
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Hi Angelika!

Ich lese deine Gedichte gerne, da ich den gehobenen lyrischen Stil sehr schätze, komme aber zuweilen nicht umhin zu bemerken, dass du immer wieder mal eher unlyrisch oder unmelodisch formulierte Stellen einstreust, entweder weil du sie gar nicht bemerkst, oder weil du dir die Mehrarbeit nicht machen willst, sie auszumerzen.

So auch hier: Unvollständige Sätze, die eher verkrampft und geschraubt wirken als lyrisch, gemeinsprachliche Ausdrücke und Phrasen, kantige Formulierungen, die die so wunderbar aufgebaute lyrische Stimmung zunichte machen wie weiße Tennissocken an einem begattungsbereiten nackten Liebesgott die Huld der erwartungsvollen Angeschmachteten!

Ich habe die Stellen, die mir solches antaten, mal umgeschrieben, um einen Vergleich zu generieren. In der kurzen Zeit mag einiges durchaus noch suboptimal sein, aber so sollte es runder und sprachedler klingen:

Erinnerst dich so mancher stolzer Träume,
an ihr Zerbrechen, viel zu oft erfahren,
an allzu enge, eingeteilte Räume -
begreifst es erst nach angestrengten Jahren:

Zutiefst Erworbenes verlor sein Glänzen.
So manches Mal hörst du im Rücken Lachen,
denn jedes Wissen, weißt du, kennt auch Grenzen,
und nichts hast du den Enkeln zu vermachen.

Was Hoffnung dir bedeutete - vergessen,
mit einem Fuß stehst du bereits im Grabe.
Ins Herz hat Skepsis tief sich eingefressen,
und ist dir teuer nun als letzte Habe.


Nimm, was dir brauchbar erscheint - oder lass es. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele eine solche Art der Kommentierung wenig schätzen. Ich tat es letztendlich um des Vergleiches willen, um dir klar zu machen, was ich meine, wenn du die Versionen einander gegenüberstellst.
Natürlich liegt lyrische Schönheit im Auge des Betrachters, und ich kann hier nur von meinem persönlichen Geschmack und Gespür ausgehen. Von daher sollte klargestellt sein, dass dies kein objektives Werturteil sein kann, sondern nur die subjektive Perspektive eines einzelnen.

Gern gelesen und beklugscheißert!

LG, eKy
__________________
Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
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Alt 01.01.2017, 06:48   #3
Angelika
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Lieber Erich, du bemängelst meine Stilistik, und aus deiner Sicht hast du natürlich recht, wenn du die Glätte des Ausdrucks bevorzugst und jede persönlichen Äußerung des Autors ausgemerzt wünschst. Aber heutzutage lebt ein Gedicht nicht von der geglätteten Schönheit, sondern davon, dass der Leser merkt: Hier spricht einer wie ich, er spricht mich an. Das "heutzutage" ist wichtig, Erich. Da stehen wir wohl auf zwei verschiedenen Seiten der stilistischen Barrikade.

Ich will dir das mal an einem Beispiel zeigen. Ich hatte geschrieben:

Erworbenes verlor an Wert und Glänzen.
So manches Mal hörst du im Rücken Lachen.

Du korrigierst:

Zutiefst Erworbenes verlor sein Glänzen,
so manches Mal hörst du im Rücken Lachen.

Ich denke, das "zutiefst" gehört in die Kategorie Schwulst, denn wie kann man etwas "zutiefst" erwerben? Man erwirbt es oder erwirbt es nicht. Und ich habe ganz bewusst einen Punkt hinter "Glänzen" gesetzt. Dadurch vermeide ich den Zusammenhang mit dem Lachen hinter dem Rücken, denn dieses Lachen wird vermutlich nicht auf das "zutiefst Erworbene" zurückzuführen sein, sondern auf den abgelebten Stolz auf das "zutiefst Erworbene". Du aber stellst durch das Komma einen Zusammenhang her. Das ist eine inhaltliche Veränderung, und davor sollte man sich als Rezensist bzw. Kritiker hüten. Und das ist eben eine Standpunktfrage. Und da bin ich genau bei deinen eigenen Gedichten. Ich fand sie immer sehr gekonnt, wunderte mich aber immer, warum sie mich nicht ansprechen. Bis ich dahinter kam, dass du jedes Wörtchen, das mir als Leserin den Dichter "öffnen" würde, durch Ausweichen in "Schönheit" vermeidest und dadurch dem Gedicht eine gewisse Sterilität gibst. Was du als Poet sagen willst, befindet sich bei dir hinter einem Vorhang chemisch gereinigter Worte und Wörter und machen sie gewollt oder ungewollt zu einem Muster vergangener Lyrik, die der Gegenwart rein formal kaum noch etwas zu sagen hat.
Ich habe mich öfter mal gefragt, warum so schwülstig, lieber Erich? Es geht doch auch ganz anders, wie man an vielen guten Beispielen modernen gereimten Gedichts sehen kann.

Dass ich mit dieser Einschätzung nicht daneben tippe, beweist doch deine vermutliche Abneigung oder Unkenntnis des freien Verses, mit dem du nach eigener Aussage eigentlich nichts anzufangen weißt. Ich komme vom freien Vers und habe mir das gereimte Gedicht erst später zu Gemüte geführt, und zwar mit allen Schikanen, technisch sowohl als auch inhaltlich. Und da liegt wohl der Punkt deines Missvergnügens beim Lesen meiner Gedichte, denn sie baden nicht in Schönheit, sondern in Klarheit des Gedankens und des Ausdrucks, will ich jedenfalls annehmen.

Ich bin ja nun schon ein älteres Kaliber und mit der Neo-Avantgarde habe ich auch nichts im Sinn, ist vielleicht falsch, aber ich habe da nur "Avantgarde" hinsichtlich des Formalen gefunden, nicht aber des Inhaltlichen, was erst Avantgarde überhaupt ausmacht, und so weiß ich, dass diese "Avantgarde" irgendwo im Wüstensand der Lyrik verschwinden wird. Und nun glaube nicht, dass ich vielleicht dieses Gedicht auf dich gemünzt hätte. Nein, so etwas liegt mir fern, mich interessieren bestimmte gesellschaftlich-psychologische Vorgänge an sich, und das, glaube ich jedenfalls, habe ich ausgedrückt. Nichtsdestotrotz freue ich mich immer, wenn du als der "Sonett-Papst" deinen geneigten Blick auch mal auf meine Versuche richtest, den Ausdruck des freien Verses ins gereimte Gedicht zu bringen.

Heute ist der 1. Januar 2017, es ist noch nicht 6:00 Uhr, und da wünsche ich dir, lieber Erich, Gesundheit und weitere Schaffensfreude. Überzeugen kann ich dich nicht, bleib, wie du bist, ich habe nur mal meine Gedanken zu diesem Thema in diese paar Zeilen gefasst, und hoffe, du nimmst sie mir nicht allzu übel.

Liebe Grüße
Angelika
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Alt 01.01.2017, 12:55   #4
Erich Kykal
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Hi Angelika!

Um bei deinem Beispiel zu bleiben: Das Wort "zutiefst" bringt hier zum Ausdruck, dass es sich um etwas Erworbenes handelt, das für den Betreffendem von großer Wichtigkeit und großem Wert ist, oder dass er sich nur unter großen Mühen und/oder großem Leid erkaufte.
Wenn du das nicht erkennst, tut es mir leid. Als "Schwulst" abgetan zu werden, hat es nicht verdient. Rilke ist der einzige Poet, dessen Werke mich allein schon der sprachlichen Schönheit wegen zum Weinen bringen. Schaffen "moderne" Gedichte das bei dir auch?

Ob nun ein Komma oder ein Punkt die Sinneinheiten trennt, man kann sich als Leser im einem wie im anderen Falle letztlich dafür entscheiden, die Teile aufeinander zu beziehen - oder nicht. Wer aufmerksam liest und die Aussagen sofort ergründet erkannt, ob diese in Relation stehen, bzw. wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür ist.
Dahingegen wirken kurze Sätze im lyrischen Kontext eher kurzatmig, beschleunigend, den lyrischen Fluss unterbrechend. Aber wie du sagst - du hast eben eine andere Idee davon: Ich fühle mich der Schönheit der Sprache eher verpflichtet als dem zu transportierenden Inhalt - obwohl wir beide natürlich nach der perfekten Symbiose suchen - nur eben von unterschiedlichen Seiten, wie es scheint.

Die Worte, die mir beim Dichten quasi entfließen - ich "konstruiere" das kaum - mag ich nicht als "chemisch gereinigt/steril" betrachten - ich schreibe eben so, weil ich es als inspirierend und schön betrachte. Wenn dir das nichts gibt, finde ich es natürlich schade, aber ebenso tun mir manche deiner Wendungen geradezu weh im Sprachzentrum, weil sie mir so stimmungstötend linkisch erscheinen. Damit wären wir wohl quitt, was das anbelangt.


Auch dir ein gutes Jahr 2017!

LG, eKy
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Alt 02.01.2017, 07:50   #5
Angelika
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Lieber Erich, hier geht es um Literatur, und ich will jeden Anklang an Persönliches in meiner Antwort vermeiden, verstehe mich also nicht falsch. Ich liebe die Literatur wahrscheinlich genauso wie du und habe mir Vorlieben für bestimmte Dichter oder Werke genauso wie du angeeignet.

Was Rilke angeht, so hat er mit seinen Ergebenheitserklärungen an Mussolini seine eigenen Texte so sehr beschädigt, dass sie für mich unlesbar geworden sind, denn der Mensch ist das Werk genauso, wie das Werk der Mensch ist.
Über seine Affinität zum italienischen Faschismus wird heute verständlicherweise geschwiegen. Die Rilke-Manie will ich dir nicht ankreiden, da bist du nicht der einzige, das zeigt mir aber, dass du gesellschaftliche Gegebenheiten vom Dichter trennen kannst, ich kann es nicht. Und das zeigt außerdem, dass ich nicht falsch erkannt habe: Deine lyrischen Bestrebungen und Sehnsüchte beziehen sich auf eine Vergangenheit, die im Nebel der Geschichte zu Recht versunken ist. Rilke war ein Kind seiner Zeit, genauso wie wir beide Kinder unserer Zeit sind.

Das "zutiefst": Ich habe nichts dagegen, nur kann ich deiner Argumentation nicht folgen. Ich setze bei allem, was der Mensch erwirbt, voraus, dass er dies mit Wissenseifer und heißem Herzen tut, um dein Wort zu gebrauchen: zutiefst. Sonst erwirbt man es nämlich nicht, sondern trägt den Dr. phil. als Orden für erduldete Leiden. Das ist nun aber Illusion, du weißt, wer und auf welchem Wege so manch einen Dr. phil. erworben hat, entstanden ist oftmals ein Beamter der Philosophie. Solche Füllsel versuche ich weitestgehend zu vermeiden, die Substantive nicht zu schmücken, sondern sie selbst undekoriert sprechen zu lassen. Das ist eine unterschiedliche Herangehensweise an den sprachlichen Ausdruck. Ich beklage an deinen Gedichten, dass sie mich vor lauter Bemühung um Perfektion emotional nicht ansprechen. Deine Inhalte gefallen mir, nicht alle, aber oft, ich habe aber beim Lesen immer das Gefühl, die Ausführung gehört in eine verflossene Zeit, sie geht mich nichts mehr an.

Worte, "die dir entfließen". Da wird es für mich leicht kriminell, um es mal so auszudrücken. Worte und Wörter entstehen im Kopf, da entfließt nichts. Denn jedes Gedicht ist eben auch Handwerk, dies vor allem. Da steckt für mich so ein kleines Geniedenken hinter. Nein, Erich, Genies sind wir hier alle nicht, wir sind schlichte Gedichtemacher. Ja, natürlich, meiner Ansicht nach hast du dich vorwiegend mit der lyrischen Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt, das ist nicht anstößig, man muss sie kennen, aber man sollte nicht versuchen, nun auch selber "wie Rilke" etc. zu schreiben. Das ist Epigonentum, und du weißt, welchen Stellenwert es in der Literaturgeschichte einnimmt. Wir sind lyrische Laien, Erich. Natürlich hat jeder von uns irgendein Idol, dem er versucht nahezukommen, aber zum Glück bist du nicht Fan von Klopstocks Oden geworden.

Etwas, was entscheidend für das Gelingen eines Gedichtes, ist: Die Form ist nur das Gefäß, in das die dichterische Wahrheit eingebettet ist. Kurz gesagt: Inhalt vor Form, die du "Stimmung" nennst. Du spezialisierst dich sehr auf die Form, während das Inhaltliche ab und an, wie ich festgestellt habe, für dich etwas zweitrangig wird, um eine bestimmte Formulierung anbringen zu können. Es ist allerdings egal, auf welchem Wege ein Gedicht entsteht, entscheidend ist das Ergebnis. Dass du aber am Formalen klebst, das ist für mich unübersehbar. Vielleicht ist diese Formulierung zu hart, zu eindeutig für dich, entschuldige. Das Problem dabei ist aber: Erst, wenn beide auf gleicher Höhe sind, Inhalt und Form, erst dann entsteht das wirklich gute Gedicht. Und das ist ja unser aller Ziel, das wirklich gute Gedicht zu schreiben bzw. schreiben zu können.

Was du an meinen Gedichten als linkisch empfindest, ist das Bemühen, die Lyrik aus den genieverklärten Wolken wieder auf die Erde zurückzuholen. Ich versuche so zu schreiben, dass mich ein an Gedichten Interessierter verstehen kann, eben die heutige Sprache lyrisch zu formen. Da ist eine Menge Umgangssprache dabei, die ich bewusst einsetze. Mit "humpelnder Attitüde" hat das nichts zu tun. Die ist sogar nicht immer logisch, aber sie hat hoffentlich den Pfiff, den man braucht, um den Leser anzusprechen. Was nicht heißt, dass ich nun in den Niederungen der Umgangssprache suhlen will, sondern ich will den schmalen Grat zwischen Hochsprache und Umgangssprache erreichen. Vielleicht gelingt mir das nicht immer, und wenn du eine Formulierung weißt, die treffender ist, bin ich dir sehr dankbar. Was aber nun die Stimmung angeht, so bin ich sicher, dass auch meine Gedichte eine Stimmung haben, aber es ist eben die Stimmung von heute. Sie ist nicht immer "lyrisch", mitunter oft sogar antilyrisch, sie ist realitätsgebunden, aber so fühlen und denken Menschen heute, und die sind ja die heutigen Leser.

Nun ist das doch länger geworden, als ich dachte, entschuldige bitte, Erich. Wir stehen eben, wie ich schon schrieb, auf zwei verschiedenen lyrischen Barrikaden. Und dagegen können wir beide wohl nichts tun. Ich hoffe, du nimmst mir manch eine vielleicht überspitzte Formulierung nicht allzu übel.

Liebe Grüße
Angelika
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Alt 02.01.2017, 13:32   #6
Erich Kykal
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Hi Angelika!

Ich nehme selten etwas persönlich, es sei denn, ich interpretiere es aufgrund gewisser Merkmale als bewusst gewollten Angriff - und selbst dann bleibe ich noch lange "cool".

Einen Dichter zu verdammen und zu negieren, bloß weil er am Ende seines Lebens ein aus heutiger Sicht unglückliches Händchen für Politik hatte, finde ich gedankenlos und oberflächlich.
Umso mehr, wenn man bedenkt, wie verfahren und unsozial die politische Situation in Europa vor dem ersten WK war, und wie sehr weite Bevölkerungsschichten danach unter Wirtschaftskrise und Korruption litten. Da erschienen Leute wie Mussolini, die ordentlich Wind machten und das Alte, Überkommene hinwegfegten, einem idealistischen Poeten gern als willkommener Besen. Man muss auch bedenken, dass der Mussolini der frühen Jahre - als Rilke noch lebte - kaum etwas mit dem späteren Diktator von eigenen Gnaden gemein hatte, der sich mit Hitler verbündete und zuletzt völlig von ihm überwältigt und abhängig wurde.
Dazu kommt, dass Rilke in einer monarchistisch orientierten Gesellschaft aufwuchs und lebte - ein "starker Mann" vorneweg galt vor den Greueln der Weltkriege durchaus nicht als etwas grundsätzlich Negatives und Vermeidungswürdiges!
Außerdem - für jemanden, der nicht selbst dabei war, ist es leicht, ein idealisiertes Bild von bestimmten Vorgängen zu generieren, vor allem, wenn er sich von den Zuständen davor umso tiefer abgestoßen fühlt!
Rilke deshalb also mit deinem heutigen Wissen und Maß zu beurteilen, so als hätte erschon damals wissen müssen, wie sich all das entwickeln würde, finde ich seltsam ... unlogisch. Und eine Aussage wie: "Der Mensch ist das Werk, wie das Werk der Mensch ist" finde ich geradezu hoffärtig vereinfachend und reduzierend. Solche Gemeinplätze erwarte ich von dünkelhaften Parolenschreiern, aber nicht von intelligenten Zeitgenossen! Jeder Mensch ist unfasslich viel mehr als das, wodurch er sich der Welt mitteilt und was er - bewusst oder unbewusst - darin erschafft. Was ihm nachgesagt oder worauf er mit dem Schleier der Jahre reduziert wird, dafür kann er nichts.

Zum Thema "verflossene Zeit", "Stil von gestern": Alles rotiert, alles war irgendwann schon mal da. Man braucht nur die Mode zu betrachten, all die "Revivals" usw...
Es ist überall so: Geschmack wandelt sich mit den Generationen, und was der einen verstaubt, ja antiquiert erscheint, mag der nächsten schon wieder einen Kick geben! Ich bin sicher, meine Art zu schreiben wird irgendwann wieder gelesen und genossen, vor allem, weil sie ganz zeitentkoppelt die Sprache an sich feiert. Ich werde nicht mehr leben - also wird es mir egal sein, genauso übrigens, wenn es anders kommen sollte.
Ich präferiere einfach deshalb die "alte Sprache", weil sie mir um Häuser besser gefällt las die moderne prosaische Nüchternheit! Wieviele wundervolle Ausdrücke sind heute nicht mehr geläufig, weil im Fernsehzeitalter so sehr auf die Quote geachtet wird, dass man die Programme sprachlich möglichst simpel gestaltet, damit auch der letzte Prolet sich nicht gedemütigt fühlen muss, wenn er guckt! Ich bevorzuge eine reiche Sprache!
Bei der Symbiose von Form und Inhalt bin ich ganz bei dir - es ist ein Idealfall, der selbst großen Dichtern selten gelingt. Der Rest bleibt zeitnahes Geschmacksempfinden.

Um beim obigen Werk zu bleiben: Es ist weder Fisch noch Fleisch, es ist - und ich weise erneut darauf hin, dass dies nur meine eigene, ganz persönliche Ansicht ist, ohne Option auf gemeingültiges Urteil - ein Homunkulus aus klarem Anspruch auf "alte" Ausdrucksweisen und lyrische Formulierkunst, durchmischt mit dagegen tapsig wirkenden Phrasierungen, die alle paar Zeilen die aufgebaute lyrische Stimmung/Spannung aushebeln und ad absurdum führen - als würde mitten beim Sex einer regelmäßig "Mahlzeit" brüllen!
So zumindest ist es mir bei der Lektüre erschienen, und ich habe es dir ehrlich und aufrichtig mitgeteilt.
Klar, du darfst das gerne anders sehen und ich akzeptiere das auch. Ich habe mir nur erlaubt, auf meine eigene Meinung dazu hinzuweisen - du musst dich dadurch nicht angegriffen oder falsch verstanden fühlen. Im Gegenteil: Ich bin es, der gern unbedingt richtig verstanden werden will, daher meine Ausführungen. Können wir es nun dabei belassen?


LG, eKy
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Alt 02.01.2017, 14:50   #7
Angelika
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Lieber Erich, ich würde es ja gern dabei belassen, aber ein paar Korrekturen sind doch nötig. Rilke hat sich nicht VOR dem ersten Weltkrieg Mussolini zu Füßen geworfen, sondern NACH dem ersten Weltkrieg. Und das hat er nicht nur gegenüber Mussolini getan, er hatte noch Zeit, Hitler seine besten Grüße und Wünsche zu schicken. Und da kann man kaum davon reden, dass er sich nicht in der Politik zurechtgefunden hat. Und seine politische Haltung spiegelt sich natürlich auch indirekt in seinem Werk. Ich könnte Rilke hier zitieren, aber ich spare es mir. Du würdest erstaunt sein, das verspreche ich dir.

Mir ist es nicht fremd, dass es immer eine gewisse Differenz zwischen der Persönlichkeit des Künstlers und seinem Werk gibt. Ich habe in meinem Leben genug Umgang mit Künstlern gehabt, um das zu wissen. Aber Faschismus ist die Schwelle, wo bei mir Schluss ist. Bei dir nicht, aber das ist deine Sache. Geäußert habe ich mich dazu auch nur, weil Rilke ein typisches Beispiel dafür ist, wohin ein bürgerlicher Schriftsteller geraten kann.

Was mein eigenes Schreiben angeht, so beabsichtige ich nicht, ins Literaturlexikon aufgenommen zu werden. Ich finde deine Äußerungen, was mein Schreiben angeht, manchmal etwas hemdsärmelig, um dich zu zitieren.

Aber lass gut sein. Wir haben unsere Standpunkte geklärt.

Angelika
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Alt 02.01.2017, 17:43   #8
Erich Kykal
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Dazu nur noch diese kleine Anmerkung: Rilke starb 1926 - da war Hitler noch lang nicht an der Macht, ja noch nicht einmal öffentlich einigermaßen bekannt. Rilke schrieb einer Idealfigur, die er sich erträumte. Vorwerfen kann man ihm bestenfalls, dass er nicht ausreichend recherchierte.
Du hast es selbst gesagt: Er war ein Kind seiner Zeit, und jede Veränderung erschien ihm besser und potentiell verbessernder als die nach dem ersten WK herrschenden Zustände, von denen jeder ehrliche und aufrechte Mensch sich abgestoßen fühlen musste.
Wer nicht in jenen Zeiten gelebt hat, sollte mit Pauschalurteilen vorsichtig sein. Denk dran, dass die Nazis überhaupt erst an die Macht kommen konnten, weil so viele, die sie sonst nie gewählt hätten, von den damaligen Zuständen angewidert waren: gallopierende Inflation, Armut und Hunger, Korruption und Dünkel der Beamtenschaft und Regierungsorgane, der ungerechte "Schandfriede", die "verordnete" Weimarer Republik, die sich in endlosen Grabenkämpfen erging, weil man Demokratie noch nie geübt hatte, anstatt etwas Sinnvolles gegen die Zustände zu unternehmen.
In Österreich ging es ganz ähnlich zu, geprägt von Obrigkeitsdenken und Militarismus! Rilke sah in Mussolini und Hitler Menschen, die berufen waren, das Schicksal der Nationen zum Besseren zu wenden. Er war idealistisch und naiv, weiter nichts.
Und selbst wenn er in seinen letzten Jahren ein "Arschloch" gewesen wäre - was hat das mit seinem früheren Selbst zu tun, als er all die - eigentlich die meisten seiner - wunderbaren Gedichte schrieb? Wir ändern uns ein ganzes Leben lang ständig - 10 Jahre weiter sind wir eigentlich fast komplett andere, bloß wir merken es nicht, weil der Prozess so langsam abläuft, und weil wir das, was wir gerade sind, trotz besseren Wissens für das Ich halten, das wir im Grunde immer schon waren. Weit gefehlt!
Ich werde mich nicht von Rilke oder seinem Werk abwenden bloß wegen einiger verfehlter Briefe, oder weil Teile seines Charakters vielleicht nicht so waren, wie ich mir eine idealisierte Figur vorstelle. Um derlei glauben und so leichtfertig urteilen und verdammen zu können, bin ich selbst viel zu sehr Arschloch!

LG, eKy

PS: Von wegen der "alten Sprache": Ich bin damit aufgewachsen. Mein Vater, Deutsch-, Englisch- und Französischprofessor, zog mich in akzentfreiem lyrischem Hochdeutsch auf. Dass es Dialekt gibt (und das in Österreich!), lernte ich erst im Kindergarten!
Ich erinnere mich noch, wie eine Bekannte mir mal erzählte, wie befremdet sie damals gewesen war, wenn sie zu Besuch kam und der Fünfjährige beim Spaziergang wie folgt anhub zu sprechen: "Vater, bedecke mich, mir ist kühl am Kopfe!", wenn er sein Häubchen aufgesetzt haben wollte.

Danach wuchs ich mehr mit Hörspielen und Märchen-LPs auf als mit Fernseher, die meine Sprache noch weiter "antiquierten". Mit 16 konnte ich den halben Faust I auswendig aufsagen, weil ich ihn monatelang auf Schallplatte rauf und runter gehört hatte (Erich Ponto als Mephisto). Mein erster Kontakt mit echter Lyrik aber war, als ich 12 war, Rilke's Panther, der damals noch fixer Bestandteil des österreichischen Schullesebuchs war (heute findet man dort keine Lyrik mehr ...). Ich weinte um das gefangene, gebrochene Tier! Kein anderer Dichter konnte mich je so erreichen wie dieser. Selbst heute genügen ein paar Seiten Rilke, und mir stehen die Tränen wieder in den Augen, allein schon durch die Magie seiner Sprache.
Rilke hat das Größte gezeigt, wozu unsere Sprache fähig ist. Wie kann man so etwas "modernisieren" und "ernüchtern" wollen!?
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Geändert von Erich Kykal (03.01.2017 um 10:07 Uhr)
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