20.05.2010, 06:05 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Paula
I
Herbst wie mit Wasserfarben gemalt, dachte er. Gestern hatte es geregnet, jetzt fielen Sonnenstrahlen durch die Bäume, bunte Blätter schwebten herab, Wasserdampf stieg vom Boden auf. Im Hintergrund hörte man Verkehrslärm, leise, wie ein Rauschen. Der Pfarrer stand vor dem Loch, der Sarg war schon herunter gelassen , vier Männer in abgetragenen dunklen Anzügen hielten noch die Seile in ihren Händen. Es roch nach feuchter Erde. Ihre Eltern und einige wenige Freunde standen nahe beieinander vor dem Grab, als ob sie sich gegenseitig vor etwas schützen wollten. Versteinerte Gesichter, Paulas Mutter weinte, eine schmale, schlanke, blasse Figur. Ihr Mann stützte sie, blickte hilflos zu Boden. Etwas abseits zwei Männer in langen Mänteln, Hüte ins Gesicht gezogen. Einer hatte einen Fotoapparat in der Hand, fotografierte, der andere schrieb etwas in ein kleines Notizbuch. Er schaute in das Grab, ein paar Blumen lagen auf dem Sarg und ein Kranz. Er hielt einen Blumenstrauß in der Hand, gelbe Rosen. Die hatte sie gemocht. Er bückte sich etwas, als wollte er sie auf den Sarg legen, ließ sie dann hinunter fallen. Ein leichter Wind wehte Regentropfen von den Bäumen. Er sah nach oben. Tropfen liefen über sein Gesicht. Er dachte an alles, was er und Paula zusammen gemacht hatten, was sie noch machen wollten, an ihre Pläne, an Diskussionen, an Utopien. „Wenn nur eine Person hier weniger weint, dann hat sich eure Arbeit gelohnt,“ Das hatte ihm eine alte Frau gesagt, deren Sohn umgebracht worden war. Weinte eine Person weniger, hatte sich Paulas Arbeit gelohnt? Er hatte Paula lachen und weinen gesehen, sah ihre blauen Augen vor sich, die immer etwas traurig blickten, spürte noch ihre langen schwarzen Haare in seinem Gesicht, die immer leicht nach Essig rochen. Der Pfarrer schaute in seine Bibel, sprach von einem tragischen Verkehrsunfall, im Glauben läge Trost. Er sprach sehr leise, unsicher, als wenn er selber nicht an seine Worte glauben würde. Überzeugte Atheistin war sie gewesen. Angeblich war sie von einem Lastwagen überfahren worden, der Fahrer konnte nicht gefunden werden. Er wusste es besser, man hatte sie eine Woche lang festgehalten, gefoltert und dann absichtlich überfahren. Vierundzwanzig Jahre war sie alt geworden, und er hatte sie geliebt. II Frühling, die Sonne scheint wieder wie beim letzten Mal, als ich hier war. Paulas Grab liegt an der Nordseite des Friedhofs, nahe der Mauer. Langsam gehe ich den Hauptweg entlang, die Bäume sind fast noch kahl. Ich biege dann nach links und sehe Paula vor ihrem Grab. Ihre langen schwarzen Haare wehen im Wind. Sie wendet mir den Rücken zu, bewegt sich nicht, steht einfach nur da. Ich gehe nicht weiter, ahne, dass sie wieder verschwindet, wenn ich näher komme. Jetzt streicht sie sich über ihr Haar, als wenn sie es festhalten wollte. Blaue Jeans hat sie an, die schwarze Strickjacke trägt sie, in der ich sie fast immer gesehen habe. Nur wenige Schritte trennen uns. Ihr Haar riecht immer noch ein wenig nach Essig. Sie bückt sich, ordnet Blumen, die auf ihrem Grab liegen und richtet sich wieder auf. Ich strecke meine Hand aus, will sie an der Schulter berühren. Die Gestalt löst sich auf, ich kann sie nicht mehr sehen. Ich stehe alleine da, als wenn sie nie da gewesen wäre. Es liegen keine Blumen mehr auf dem Grab, auf den Grabstein hat jemand mit weißer Farbe das Wort „Terroristin“ gesprüht. Ich gehe zu einem Wasserhahn, mache mein Taschentuch nass und versuche die Schmiererei am Grabstein abzuwaschen. Sie ist schon längere Zeit an dem Stein. Ich reibe und reibe, aber die Schrift lässt sich nicht löschen. „Mensch Paula“, sage ich leise. Eine ganze Weile stehe ich noch da, dann gehe ich zum Auto zurück. III Richtung Norden mit dem Auto. Viel Verkehr. Überall wird renoviert. Frauen laufen herum, tragen große Körbe, ein zweirädriger Wagen mit Säcken beladen, ein kleines Pferd davor zwischen Autos und Bussen. Ich komme in die Vorstadt. Ruhig ist es hier. Große Grundstücke, Häuser nach amerikanischem Vorbild, Schwimmbäder. Ein Gärtner schneidet eine Hecke, ein Hund läuft über die Straße. Hier wohnen Leute mit Geld und Offiziere. Dann biege ich nach links ein und halte am Anfang der Seitenstraße an. Von hier aus kann ich den Eingang des Hauses genau beobachten. Die Haustür geht auf, eine junge Frau kommt mit zwei kleinen Mädchen und dem Dienstmädchen heraus, dreht sich noch einmal um, ruft etwas, ich kann es nicht verstehen. Sie winkt ihrem Mann zu, der an der Haustür steht. Dann steigt sie in ein Auto und fährt an mir vorbei in die Stadt. Den Mann habe ich öfter gesehen, Hauptmann in der Armee, arbeitet für den Geheimdienst. Es war nicht leicht, ihn zu finden. Ich öffne das Handschuhfach und nehme den Revolver heraus, entsichere ihn. Colt, Kaliber 38, kurzer Lauf. „Wenn du wenig Ahnung von Waffen hast, ist das die geeignete Waffe für dich,“ hatte mir einmal jemand erklärt. „Du musst nicht genau schießen können, das Kaliber haut jeden um, egal, wo er getroffen wird. Danach kannst du nahe herangehen und alles mit einem weiteren Schuss beenden.“ Ich werde sehr nahe herangehen, ein zweiter Schuss wird nicht notwendig sein. Sechs Patronen sind in der Trommel, ich werde nur eine brauchen. Ich stecke den Revolver in die rechte Manteltasche, umklammere ihn fest. Ich steige aus. Die Haustür ist geschlossen, der Mann ist wieder hineingegangen. Langsam betrete ich das Grundstück, das Tor ist offen, gehe die Einfahrt entlang. Ich drehe mich noch einmal um, alles ist ruhig auf der Straße. Ich klingele, Jaramillo steht an der Tür, höre Schritte, die Tür wird geöffnet. Bratenduft kommt mir entgegen. So nahe war ich dem Mann noch nie gekommen. Er lächelt freundlich und fragt, ob er mir helfen könne. Wenn ich nicht so viel über ihn wüsste und er keine Uniform trüge, könnte er mir sympathisch sein. Etwa 40 Jahre ist er alt, mittelgroß, kurzer Haarschnitt, eine angenehme Stimme hat er. Seine Augen irren umher, als wenn sie etwas suchten, er schaut mich nicht direkt an. Er weiß noch nicht, dass er seine Haustür zum letzten Mal geöffnet hat, dass er seine Frau und seine Kinder nie wieder sehen wird, dass er nie wieder Befehle geben wird, andere zu foltern oder umzubringen. Er kommt einen Schritt aus der Tür, steht jetzt direkt vor mir. Ich werde das jetzt erledigen, denke ich, zum Auto zurücklaufen und zum Flugplatz fahren. Die Flugkarte habe ich schon. Sollte jemand sich die Autonummer gemerkt haben, nützt das wenig. Es ist mir heute Morgen übergeben worden, man hat es gestohlen. Was ich hier mache, ist gerecht. „Angst müssen wir verbreiten, jeder von denen muss wissen, dass es ihm genauso ergehen kann“, habe ich immer wieder gehört. Ich fasse die Waffe fester, werde sie gleich brauchen und frage den Offizier: „Wohnt hier eine Familie Gonzales?“ „ Gonzales ? Nein, ich wohne schon längere Zeit hier, eine Familie Gonzales wohnt hier in der Gegend nicht. Haben Sie die genaue Adresse?“ Er schaut mich jetzt an. Ich schüttele den Kopf. „Nein, aber man hat mir erklärt, dass sie hier in diesem Viertel wohnen würde.“ „Moment, wenn Sie wollen, kann ich einen Anruf machen, dann wissen wir die genaue Adresse sofort.“ „Vielen Dank“, sage ich, „ich will sie nicht unnötig belästigen.“ „Kommen sie nur rein, das kann ich schnell erledigen.“ Ich weiß, dass er alleine im Haus ist, alle sind weggefahren. Ein bessere Gelegenheit kann es gar nicht geben, es wird viel leichter sein, als wir gedacht haben. Ich gehe ins Haus, er schließt die Tür. „Sie sind Ausländer? Amerikaner?“ „Nein, Deutscher.“ „Ich bewundere die Deutschen, ihre Kultur, Goethe und Wagner, sie haben die beste Armee der Welt!“ „Wir haben fast alle Kriege verloren“, sage ich leise. Das scheint ihm neu zu sein. „Wirklich?“ Ich habe immer noch die Hand in der Manteltasche. „Jemanden umzulegen ist nur beim ersten Mal nicht leicht, man gewöhnt sich daran, wie man sich auch an alles andere gewöhnt“, hatte man mir gesagt. „Und immer daran denken, dass wir uns für eine gerechte Sache einsetzen, dass wir nur mit gleicher Münze zurückzahlen.“ Und ich erinnere mich wieder an den Satz: „Wenn hier einer weniger weint, hat eure Arbeit einen Wert gehabt“. „ Mir ist gerade eingefallen, dass meine Frau die genaue Adresse hat, es ist auch nicht so eilig“, sage ich. Ich nehme die Hand aus der Manteltasche, bedanke mich, er lässt mich wieder raus. Winkt noch einmal. Ich gehe langsam zum Auto zurück und fahre weg.
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch) |
20.05.2010, 20:37 | #2 |
ADäquat
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Hallo Pedro,
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21.05.2010, 04:47 | #3 | |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Morgen Chavali,
Zitat:
- Eine Fortsetzungsgeschichte sollte es nicht werden, aber ich habe die Geschichte wieder in einem Fortsetzungsbeitrag aufgegriffen. Gruß Pedro
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch) |
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21.05.2010, 23:39 | #4 |
Slawische Seele
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Hallo Pedro,
für mich eine ganz besondere Geschichte. Einmal, weil sie zwischen Politik, Medienbericht und Opposition pendelt, die Person privat beleuchtet und das gewollte "Vorurteil gegen Widerstandskämpfer" relativiert. Diktatorische Machenschaften kommen stark durch, ohne intensive Anklage. Der angesetzte "Racheakt" findet dann doch nicht statt. Bei mir, Leserin, kam dieser "Nichtvollzug" gut an. Paula wurde für ihre Überzeugung umgebracht - das ist unendlich traurig und ein großes Unrecht. Jenen "Befehlshaber" dafür umzubringen bringt das System nicht aus dem Lot. Es wird immer "Nachfolger" geben. Jene Nachfolger sind ebenso "Opfer des Systems". Der Protagonist in deiner Geschichte gibt nicht zu erkennen, ob er diese Weisheit erkannt hat. Er hat es nicht fertig gebracht. Wenn beide Seiten das Töten nicht fertig brächten, wäre die Welt "heiler". Deine Geschichte ist menschlich wertvoll. Sie lässt Trauer zu und appelliert an tiefere Nachdenklichkeit - für beide Seiten. Liebe Grüße Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben. (Frederike Frei) |
22.05.2010, 04:20 | #5 | |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Morgen Dana,
deine Textanalyse entspricht meiner Absicht. Zitat:
Vielen Dank Gruß Pedro
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch) |
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