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Denkerklause Philosophisches und Nachdenkliches

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Alt 29.01.2012, 18:16   #1
wüstenvogel
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Ort: Wetzlar/Hessen
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Standard Heimat - 1. Versuch einer Ortsbestimmung

Die Geborgenheit des tiefen Waldes
dort
wo nicht mehr ge-borgt
ge-tauscht
ge-kauft
nur noch ge-schenkt
ge-geben
ge-teilt wird.

Heimat
liegt im Windhauch
der den Flügel eines Schmetterlings streift
in der Sanftmut eines Augen-Blickes
in der Fülle einer Sommerwiese
in der Stille einer Winterlandschaft.

Nur dort
wo kein Wort
kein Begriff
keine Vorstellung
das Empfinden entstellt
verzerrt
ergreift
wo ich leben:
kämpfen
lachen
weinen
arbeiten
lieben
sterben kann
bin ich daheim.

Dieser Ort
ist nicht zu ermessen
nicht zu begrenzen
nicht zu besitzen
nicht zu beherrschen
jeder hat Anteil daran
jeder ist Teil von ihm.

Er ist unermesslich
grenzenlos
und manchmal auch so winzig
bloß
mit dem Auge allein
nicht zu erkennen.

Wir können diesen Ort
mit uns selbst verbinden
nur so ist es möglich
endlich
Frieden zu finden.
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Alt 09.02.2012, 22:48   #2
Falderwald
Lyrische Emotion
 
Benutzerbild von Falderwald
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Inselstadt Ratzeburg
Beiträge: 9.908
Standard

Hallo wüstenvogel,

Herbert Grönemeier singt in seinem Lied "Heimat": "Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl."

Und genau so sehe ich das auch.

Vor einigen Jahren hätte ich noch nicht geglaubt, daß ich je meine Heimat(stadt) einmal verlassen könnte.
Dort bin ich geboren, mitten in dieser Stadt, dort bin ich aufgewachsen, habe gelebt, geliebt, gearbeitet, dort sind meine Kinder und meine Eltern geboren und ich war als kleiner Taxiunternehmer mehr als nur verbunden mit diesem Ort.
Ich kannte jede Straße, jede Fassade und jeden Hinterhof und noch viel besser die Menschen, denn sie saßen alle in meinem Taxi.

Dann bin ich fortgezogen, fast 500 km weit und habe eine neue Heimat gefunden.
Die Gegend hätte noch so schön sein können (und sie ist wirklich schön), wären da nicht die Menschen gewesen, die mich auf- und angenommen haben, so wäre wohl nie ein neues, heimatliches Gefühl bei mir entstanden.
Heute möchte ich hier gar nicht mehr weg.
Ich fahre zwar immer noch gerne in die alte Heimat, aber nur weil dort die Menschen leben, die in meinem Herzen sind.
Und ich fahre danach genau so gerne wieder zurück nach Hause in die neue Heimat.

Das Bild in deinem Text aber scheint, genau wie das Gedicht selbst, eine freie Anarchie zu enthalten.
Freilich ist das utopisch, weil das so nicht funktioniert, denn jeder hat seine eigenen Vorstellungen und wenn mehr als drei Menschen (manchmal reichen auch schon zwei) aufeinander treffen, dann ergeben sich zwangsläufig Konflikte und verschiedene Betrachtungsweisen.

Das ist keine Kritik am Text, denn das Besondere an der Lyrik ist ja, daß sich jeder Dichter sein eigenes Utopia in seinen Texten erschaffen darf.
Ganz gleichgültig, wie ein anderer darüber denkt.

Sehr schön ist am Ende die Aussage, daß wir diesen "Ort" selbst bestimmen können, wir haben es ganz alleine in der Hand, aus dem Ort, an dem wir uns befinden, eine Heimat zu machen.
Man muss nur die kleinen und schönen Dinge zu würdigen wissen, um den eigenen inneren Frieden zu finden.

Dem stimme ich vollkommen zu. (Wenn man uns lässt.)


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt 10.02.2012, 20:03   #3
wüstenvogel
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Ort: Wetzlar/Hessen
Beiträge: 446
Standard Heimat - 1. Versuch einer Ortsbestimmung

Hallo Falderwald,

wieder ein herzliches Dankeschön für deinen ausführlichen Kommentar.

Heimat - das ist der Ort, an dem wir angekommen sind. Eine Heimat auf Erden zu haben bedeutet so vieles - davon konnte ich nur einen schwachen Abklatsch vermitteln.

Dieser Begriff ist so oft (furchtbar) missverstanden worden. Trotzdem - wenn wir keine Heimat finden, dann ist das Leben sinnlos und kalt.

So ganz verstehe ich nicht, was du mit der "freien Anarchie" meinst.

Sicher ist das, was ich versucht habe zu beschreiben, zum Teil utopisch,(noch) nicht Realität.

Dieses Gedicht ist ungefähr dreißig Jahre alt und eines der wenigen, die ich kaum verändert habe (bis auf den Schluss).

Es ist übrigens in der Anthologie "Lyrische Koordinaten" im April letzten Jahres
im Czernik-Verlag / Edition L erschienen.

Angeregt worden bin ich (auch) wieder von Nietzsche:

"Die Krähen schrei'n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt
bald wird es schnei'n
weh' dem, der keine Heimat hat."

Das ist das Lieblingsgedicht eines alten, leider schon verstorbenen Freundes.

Viele liebe Grüße

wüstenvogel
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Alt 10.02.2012, 21:26   #4
Falderwald
Lyrische Emotion
 
Benutzerbild von Falderwald
 
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Beiträge: 9.908
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Hallo wüstenvogel,

den Begriff "freie Anarchie" hätte ich mir sparen sollen.
Stattdessen wäre es besser gewesen, einen konsequent individualistischen Anarchismus anzunehmen, dem eben aufgrund seiner utopischen Eigenschaften nur eine literarisch theoretische Bedeutung zukommt.

Prinzipiell ist der Mensch in einer Anarchie ja schon befreit, zumindest von staatlichen Gewalten, Regierungen und Herrschaftselementen.
Das gesellschaftliche Zusammenleben bedarf aber trotzdem Regeln, der sich alle unterwerfen müssen, weil das System sonst nicht funktioniert.

Irgendwelche Regeln sehe ich aber in diesem Text nicht, was auch für die Formalien desselben gilt, weswegen mir irgendwie der Begriff "freie Anarchie" in den Sinn kam.
Und dann hatte ich es schneller geschrieben, als darüber nachgedacht.

Im Nachhinein jedoch ist mir etwas aufgefallen.
Ich habe den Text ja jetzt noch einmal gelesen und ein Stelle will mir sinngemäß jetzt überhaupt nicht passen.

Wie erklärt sich der Begriff "kämpfen" unter "leben" in der dritten Strophe?
Ich meine, ein Ort, wo nur noch geschenkt, gegeben und geteilt wird, wo Freiheit und Sanftmut herrscht, wo nichts die Empfindungen verzerrt, wieso muss da und wogegen noch gekämpft werden?
Immerhin ist das ja hier auch eine aktive Lebenshandlung.
Und wenn man diesen Ort nicht einmal ermessen, besitzen, beherrschen, begrenzen kann, dann fehlen weitere Grundlagen für einen Kampf.

Das erschließt sich mir nicht.

Manchmal ist es gut, wenn man einen zweiten Blick auf einen Text wirft...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Alt 11.02.2012, 09:49   #5
Ibrahim
Verstorbener Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 30.03.2009
Ort: Puch/Salzburg
Beiträge: 597
Standard Ein Gedicht,

das zu so weitreichenden Überlegungen anregt, dass sie in Bücher gefasst werden müssten. Stimmt: Ubi bene ibi patria oder ubi patria ibi bene oder keine Version?
LG Ingo
__________________
Ich will mit meinen Reimen die Leute zum Schmunzeln, Weinen oder Fluchen bringen.
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Alt 11.02.2012, 16:15   #6
wüstenvogel
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Standard Heimat - 1. Versuch einer Ortsbestimmung

Hallo Falderwald,

Mein schon erwähnter Freund und ich haben oft darüber diskutiert, ob das Leben ein Kampf ist. Er hielt fest an dieser Einstellung und ich habe damals auch oft nur die negativen Bedeutungen dieses Wortes gesehen.

Mittlerweile muss ich ihm zum Teil Recht geben.

Kämpfen ist auch eine "aktive Lebensäußerung" - Oft muss man kämpfen oder sich überwinden, das Notwendige zu tun.
Es gibt viele Arten von "Kampf" - ich würde zwischen destruktiven und konstruktiven Kämpfen unterscheiden.

Konstruktive Kämpfe sind unter anderem sportliche, faire Wettkämpfe, die großen Spaß machen und einem auch viel über sich selbst verraten können.

Ich fühle mich dann besonders "heimisch", wenn ich nicht gewinnen muss, wenn ich verlieren darf, ohne das Gesicht (oder sonstwas) zu verlieren.

Ein anderes Beispiel für konstruktive "Kämpfe" ist das Ringen um Worte,
die Auseinandersetzung mit ihnen, das Bemühen, sie sich "dienstbar" zu machen, der Versuch, möglichst genau das zu "treffen", was man aussagen will. Jeder von uns wird das kennen.

Solange Menschen leben, müssen sie auch kämpfen -auf die eine oder andere Art.

Der vorliegende Text ist eine (ungeordnete) Sammlung von Gedanken, daher folgt er auch keiner bestimmten Form - ich habe einfach das aufgeschrieben, was mir so (während des Schreibens) in den Sinn kam.


Hallo Ibrahim,

jetzt übertreibst du aber gewaltig (wenn ich mich auch sehr geschmeichelt fühle).
"Heimat" ist so ein Begriff, der alles und nichts sagt, deswegen ist er auch nur schwer zu packen und unmöglich festzuhalten.

Leider kann ich kein Latein und wäre für eine Übersetzung sehr dankbar.

Vielen Dank euch beiden für eure Worte.

Es ist schön, in diesem Forum ein kleines Stück Heimat gefunden zu haben.

Viele liebe Grüße

wüstenvogel
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Alt 11.02.2012, 16:47   #7
Ibrahim
Verstorbener Eiland-Dichter
 
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Beiträge: 597
Standard

Wo es mir gut geht, dort ist mein Vaterland (Heimat)
und
Wo mein Vaterland ist, dort geht es mir gut
LG Ingo
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Ich will mit meinen Reimen die Leute zum Schmunzeln, Weinen oder Fluchen bringen.
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Alt 11.02.2012, 17:11   #8
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Beiträge: 9.908
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Hallo wüstenvogel,

ich stimme dir in all diesen Punkten zu, was die Wirklichkeit anbelangt.
Das ganze Leben ist ein einziger Kampf ums nackte Dasein.

Es gibt andere Kämpfe, die vermieden werden könnten, aber auch das ist eine menschliche Eigenschaft.

Das Problem, welches dabei entsteht, liegt darin, daß am Ende ein Kampfes (meist) ein Gewinner und ein Verlierer steht.
Selbst bei den wenigen Ausnahmen, wo ein solcher unentschieden ausgeht, gibt es mindestens einen Verlierer, weil auch zumindest einer sein Ziel nicht erreicht hat.
Nach einem Kampf geht es also einem oder beiden schlecht oder gar schlimmer: gar nicht mehr.

Stell dir vor, es gäbe eine wechselseitige Beziehung, welcher Art auch immer, wo keine Kämpfe und keine Spiele mit Verlierern stattfänden.
Dann gäbe es nur Gewinner und alle wären glücklich.

Aber das ist eben ein Utopia, weil es in der Realität ganz anders aussieht:
Dort gibt es Neid, (verletzte) Eitelkeiten, Rache, Hass und manchmal nur einfach Spaß am Leid eines anderen.

All das findet sich auch in deinem Gedicht, wenn auch als Umkehrschluss aus den verwendeten Bildern.

Und einzig darum habe ich nachgefragt.
Der ganze Text ist so positiv ausgelegt, weshalb ich hier in dem Begriff "kämpfen" dann doch noch den kleinen Haken in der Sache gefunden zu haben glaubte.
Es ist zu schön, um wahr zu sein...

Du verstehst, wie ich das meine?


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald

--------------------------------------------------------

PS: Wenn sich hier eine schöne Diskussion entwickeln sollte, dann schlage ich vor, den Faden in das "Diskussionsforum" zu kopieren.
D.h., dieser Faden bleibt hier, wo er ist und kann als Gedicht weiter kommentiert werden und die daraus resultierende Diskussion wird "oben" fortgeführt.
__________________


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