06.03.2012, 14:06 | #1 |
Gelegenheitsdichter
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Sonette Morgentoilette
Sonette Morgentoilette
Man muss was glauben, glaubt man gerne früh Am Tag, wenn sich die Sonne zeigt. Der Zeiger Des Weckers peilt die Acht an, als ein Geiger Den Ton des Morgens sucht und findet. Brüh Den Kaffee auf, sagt jetzt die Küche. Müh Dich in das Bad und richte Dich, beeile Und bringe Dich in Form, die nächste Meile, Die Dich ans Ende bringt, beginnt. Komm, blüh, Du Schlüsselblume, sagst Du selbst, der Winter Da draußen hat sich grad erledigt, Leben Kommt auf die Tagesordnung, und dahinter Die schlechten Plätze sind bereits vergeben. Du reibst die Augen, und ein kleiner Splitter Vom Balken dort schlägt Dir ein Blitzgewitter.
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Dichtung zu vielen Gelegenheiten -
mit einem leichtem Anflug von melancholischer Ironie gewürzt Alle Beiträge (c) Walther Abdruck von Werken ist erwünscht, bedarf jedoch der vorherigen Zustimmung und der Nennung von Autor und Urheberrechtsvorbehalt Geändert von Walther (06.03.2012 um 21:03 Uhr) |
06.03.2012, 20:59 | #2 |
Slawische Seele
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Lieber sonetttgereuer Walther,
es ist schon interessant, wie du die Verse wendest, beim Sonett bleibst und den Leser "bei der Stange" hälst, bzw. zum achtsamen Lesen "zwingst". Das "Zwingen" ist positiv gemeint. Ich las erst nur so (), dann hielt ich nur die Sätze fest und beim 3. und 4. Mal fand ich mich in den Sprachklang ein. Als ich zufrieden war (), machte ich mir Gedanken über die gewählte Rubrik. Auf mich wirkt der Inhalt gar nicht so hoffnungsfroh: Man muss was glauben, glaubt man gerne früh Am Tag, wenn endlich sich die Sonne zeigt. Der Zeiger Des Weckers peilt die Acht an, als ein Geiger Den Ton des Morgens sucht und findet. Brüh Hier noch ein relativ guter Start in den Tag. Die Sonne scheint, die Pflicht ruft und gar ein Geigenton. Aber schon der 1. Vers, dass man was glauben muss nimmt mir etwas von der fröhlichen Bereitschaft. Den Kaffee auf, sagt jetzt die Küche. Müh Dich in das Bad und richte Dich, beeile Und bringe Dich in Form, die nächste Meile, Die Dich ans Ende bringt, beginnt. Komm, blüh, Hier beginnt schon die "Hatz". Die Befehle kommen fast von außen und ich erspüre den gewohnten Morgenablauf, der zwar ritualmäßig abfolgt - aber wo versteckt sich der rubrikangesagte Frohsinn? Du Schlüsselblume, sagst Du selbst, der Winter Da draußen hat sich grad erledigt, Leben Kommt auf die Tagesordnung, und dahinter Die schlechten Plätze sind bereits vergeben. Du reibst die Augen, und ein kleiner Splitter Vom Balken dort schlägt Dir ein Blitzgewitter. Die Hetze geht weiter. Leben kommt auf die Tagesordnung und schlechte Plätze sind bereits vergeben. Ich dachte an jene, die aufgrund von Arbeitslosigkeit nicht mehr hasten müssen, dafür aber am Leben in der Form nicht mehr teilnehmen. Sehr schön auch das Spiel mit Splitter und Balken. Ich habe es gesellschaftskritisch gedeutet. Versteh mich bitte nicht falsch. Der Text gefällt mir und hat mich sehr beschäftigt - aber eben nachdenklich... Oder liege ich gänzlich daneben? Gern kommentiert und neugierig hinterfragt, liebe Grüße Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
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06.03.2012, 21:14 | #3 | |
Gelegenheitsdichter
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Lb. Dana,
letztlich schaffe ich den Lichtblick durch das komplett ironische Selbstbespiegeln, das im letzten Terzett seinen Höhenpunkt findet, denn dieses Zitat stammt von hier: http://www.bibel-online.net/buch/lut...2/matthaeus/7/ Das Sonett ist an die Menschen gerichtet, die schon morgens mit dem falschen Fuß ins Leben treten. Ich meine doch, daß das Gedicht irgendwie fröhlich ist, allerdings mit gebremstem Schaum. Es macht klar, daß der Alltag nicht schön im Sinne von glücklich, glänzend, super oder so ist. Allerdings verweist es auch darauf, daß es immer wieder Frühling wird, die Schlüsselblumen blühen und es schlechtere Plätze gibt als den eigenen. Wie es überhaupt, und da sind wir beim letzten Terzett, daran erinnert, daß man sich selbst nicht so ernst und wichtig nehmen soll. Vom zweiten Terzett gibt es noch ein weniger komplizierte Version: Zitat:
Danke für Deine Interpretation meines etwas hintergründig geratenen Texts. LG W.
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10.03.2012, 13:01 | #4 |
Lyrische Emotion
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Guten Morgen Walther,
ein neuer Morgen bezeichnet immer auch einen neuen Lebensabschnitt. Das Problem dabei ist, man weiß nie, was einem im Laufe des neuen Tages begegnen wird. Allerdings kann man ihn schon ein wenig beeinflussen, denn es kommt auch auf die innere Einstellung an. Mancher Tag verstreicht ungenutzt und man "hinkt" meilenweit hinter seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten her, doch es gibt auch solche, wo man zur Höchstform aufläuft und jedes Hindernis, das sich in den Weg stellt, überwinden kann. Das Letztere gelingt freilich nicht immer, aber genau da hakt dein Text ein, auf jeden Regen folgt ein Sonnenschein, hier auf jeden Winter folgt ein Frühling. Also verstehe ich dein Gedicht so, daß man jeden Tag so gut wie möglich für sich selbst nutzen soll, denn das Leben ist viel zu kurz, um es mit Trübsinn zu begehen. Dabei ist es oft hilfreich, sich selbst nicht immer in den Mittelpunkt zu stellen oder wenn, dann nur vergleichend. Es gibt so viele, denen es vermeintlich besser geht, doch ebenso vielen Menschen ist ein wesentlich schlechteres Leben beschieden. Und wenn man da das Gleichgewicht behält, dann hat man im Prinzip schon die halbe Miete zusammen. Der Rest liegt an jedem selbst... Schönes Sonett und was mir besonders gut gefällt, sind die Zeilenumbrüche, für die diese Gedichtform ja besonders gut geeignet ist. Gerne gelesen und kommentiert... Liebe Grüße Bis bald Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine) Für alle meine Texte gilt: © Falderwald --> --> --> --> --> Wichtig: Tipps zur Software |
14.03.2012, 19:03 | #5 |
Gelegenheitsdichter
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Lb. Falderwald,
geschrieben habe ich das Sonett ein wenig für mich und alle morgens schwer Anlaufenden, ganz besonders aber für mein 81jähriges Patentantchen, das immer mal wieder erklärt, es sei jetzt genug gelebt. Geschehen also zur geburtstäglichen Erheiterung, denn wer LeidensgenossInnen hat, dem geht es gleich besser. Nachdem es fertig war, dachte ich, diese Anleitung zum Schmunzeln über den Morgens-in-den-Tag-Kommen-Prozeß könnte noch andere LeserInnen amüsieren und mit einem Lächeln das Tagwerk verrichten lassen. Hier, und bei Dir, hat das funktioniert. Und dann, genau dann, war das Sonett bereits die Mühen wert! Danke für Deine freundlichen Worte und fürs Hereinschauen und Kommentieren! LG W.
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14.03.2012, 20:25 | #6 |
TENEBRAE
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Hi, Walther!
Der eine mag behaupten, dies sei schon allzu "konstruiert" und durch seine "Overhanger", die Umbrüche mitten im Gliedsatz, zu zerfahren, zu unverständlich. Die einen. Die anderen - und dazu möchte ich mich zählen - haben wohl ein umfassenderes Sprachpotential und genießen diese hier zur Perfektion getriebene Technik nachgerade beim Lesen. Ja, man sollte sich Zeit nehmen - man muss ja nicht hudeln. Erst im stilvoll vorgetragenen Genuss dieser Zeilen eröffnet sich die grenzgeniale Konsquenz, mit der du diese Methode durchhältst und dem Sonett so einen ganz eigenen Sinnerfassungs- und Lautrhythmus aneignest, der erst beim Vortrage so richtig zum Tragen kommt und dem Werk eine flüssige Note verleiht, die es sozusagen in eine gerundete homogene Form gießt. Höchste handwerkliche Vollendung! Sehr gern gelesen. LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
16.03.2012, 20:23 | #7 |
Gelegenheitsdichter
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Lb. eKy,
es gibt in der Tat Leser und Mitdichter, die das, was hier versucht wurde, für übertrieben halten. Die Resonanz an verschiedenen Orten ist daher in der Tat "gespalten". Dazu entgegne ich, was Du schriebst: Daß dieser Text erst dann seine wahre Natur zeigt, wenn man ihn deklamiert. Dann merkt man nämlich, daß in der Tat die Sprache fließt und sich anhört, als gehörte sie genau so geschrieben. Aber dazu haben wir heute beim Lesen keine Zeit mehr. Und daher geht der eine oder andere interessante Text an uns vorbei. Vielen Dank für Deine freundliche Worte. Es erfreut immer, wenn man den Geschmack eines berufenen Lesers trifft. LG W.
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17.03.2012, 09:46 | #8 |
TENEBRAE
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Hi, W.!
Gern geschehen! Das Gedicht erinnert mich ein wenig an Rilke's "Rosa Flamingos". Da hat er dieses Prinzip auch sehr schön umgesetzt. LG, eKy
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17.03.2012, 20:21 | #9 |
Gelegenheitsdichter
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Lb. eKy,
der Vergleich mit Rilke ehrt sehr, aber ich glaube, das ist eher zu viel der Ehre. LG W.
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18.03.2012, 11:47 | #10 |
TENEBRAE
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Hi, Walther!
Ach nein! Wenn ich sage: "erinnert mich ein wenig an", dann ist das noch lange kein Vergleich auf der Basis 1 zu 1, oder? LG, eKy
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