04.04.2010, 13:22 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Claudia oder Melancholie des Alterns
Seit längerer Zeit beschäftigt mich diese Geschichte, sie ist teilweise biographisch. Ich stelle sie jetzt mal bei "Fortsetzungsgeschichten" ein. Ich bin ziemlich unsicher, ob das jemanden interessieren kann, was ich da von mir gebe. Bei fehlendem Interesse werde ich die Geschichte nicht fortsetzen.
1 Ich schaue Claudia nach, sie geht, als schwebe sie über den Boden. Ihre langen schwarzen Haare flattern im Wind. Wir beide wissen noch nicht, dass sie zum letzten Mal bei mir war, dass sie nur noch zwei Tage leben wird, obwohl sie erst 24 Jahre alt ist. Sie dreht sich noch einmal um, streicht ihre Haare aus dem Gesicht, hebt die Schultern, wie sie das oft macht, als wolle sie sagen, “Da kann man nichts machen“, und winkt mir zu. Dann verschwindet sie hinter Büschen. Ich gehe ins Haus zurück, schließe die Tür und schaue meine Sachen an. Alles ist gepackt. Ich werde nur noch mit Handgepäck zurück reisen, wie ich das immer mache. Habe alles hier in Chile, was ich brauche. Die Schränke sind voller Hemden, Hosen, Anzüge in allen Größen. Mein Leben lang kämpfte ich mit meinem Gewicht; es variierte zwischen 73 kg und 100 kg. Auf der Herreise habe ich Küchengeräte, Solarlampen und Werkzeuge mitgeführt. Ich war jetzt drei Monate hier und werde Morgen zurückfliegen. Meine Familie wartet schon in Deutschland auf mich, es ist schön, alle wieder zu sehen. Manchmal habe ich mich hier alleine gefühlt. Ich erinnere mich an meinen Freund Michael, der mir nach einer langen Reise einmal sagte: „Jetzt bin ich dann wieder alleine, ich beneide dich“. Er ist geschieden, auf ihn wartet niemand, wenn er heimkommt. Aber meistens war ich zufrieden, hier zu sein, ohne jeden Stress, planlos in den Tag hineinzuleben, nicht zu wissen, welcher Wochentag war. Ein seltsamer Sommer, eine seltsame Begegnung mit einer Frau war das, denke ich. Ich habe mich wieder jung gefühlt. Gut, dass wir damals das Grundstück in Coliumo gekauft haben, als ich in Concepción an der Deutschen Schule gearbeitet habe. Länger als zwanzig Jahre ist das her. Ich hätte das nie gemacht, meine Frau Celia war dafür. Sie ist Chilenin, zog damals plötzlich bei mir ein und brachte mein Leben wieder in geordnete Bahnen. Damals, im Jahr 1983 gab es noch keine Häuser hier, keine Wege waren vorhanden. Wir haben das Grundstück selber ausgemessen, tausend Quadratmeter, etwa hundert Meter über dem Meer. Ich hätte nie gedacht, dass wir da mal ein Haus haben würden. Vor drei Jahren haben wir dann ein kleines Fertighaus aus Holz bauen lassen. Es gab allerhand Theater mit der Baufirma. Das Haus wurde erst drei Monate später fertig, als geplant, etliche Ausführungen sind reiner Pfusch. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Viele Kleinigkeiten stören mich nicht mehr. Wenn in Deutschland Winter ist, bin ich hier im Sommer, mache kleinere Arbeiten im Garten und am Haus, pflanze Blumen und Obstbäume, versuche Geschichten zu schreiben. Im vorletzten Jahr half mir mein Freund Michael bei Renovierungsarbeiten am Haus. Er versteht etwas vom Handwerk, ist Lehrer auf dem zweiten Bildungsweg geworden, hat vorher einen anständigen Beruf erlernt. Ich koche und backe, treffe mich öfter mit Verwandten und Freunden, lese viel und gehe ab und zu angeln. Ich bin pensioniert. Ich habe viel Zeit zum Nachdenken, vielleicht zuviel Zeit. Celia ist meine zweite Frau. Sie muss noch zehn Jahre arbeiten, Physiotherapeutin ist sie, recht erfolgreich in Deutschland, war es auch in Chile. Was sie erreichen will, erreicht sie! Meine jüngste Tochter wird im nächsten Jahr hoffentlich ihr Abitur machen. Sie ist zur Zeit verliebt, lebt mit allen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. Sie will Schauspielerin werden und glaubt, dass sie an der berühmten Schauspielschule in München ankommen wird. Ich setze mich ans Fenster und trinke noch ein Glas Wein. Im Wohnzimmer hängen Aquarelle von Blumen und Landschaften, meine ehemalige Frau hat sie gemalt, sie passen gut hierher. Dunkel ist es schon geworden. Ich schaue über die Meeresbucht, auf der anderen Seiten brennen Lichter. Da liegt Dichato mit großem Touristenrummel. Die Landschaft dort wird durch Hochhäuser verunstaltet. Ich mag die Ruhe hier, brauche kein Fernsehen und lese keine Zeitung mehr. Früher las ich täglich mehrere und versuchte mich über alles zu informieren. Damals wollte ich noch die Welt verändern. Für die paar Jahre, die ich noch leben werde, erscheint mir das alles unwichtig. Meine Freunde sind über meine Haltung entsetzt. Ab und zu höre ich einen Hund bellen. Bello nenne ich ihn, ein schwarzer Rottweiler, wahrscheinlich heißt er ganz anders. Mit traurigen Augen sieht er mich an, wenn ich am Zaum des Nachbargrundstücks stehen bleibe, fängt wütend an zu bellen, wenn ich weiter gehe. Ich weiß nicht einmal, wie unsere direkten Nachbarn heißen. Die Frau führt hier wohl das Regiment an, schickt ihren armen Mann laufend mit irgendwelchen Kleinigkeiten zu mir: Da soll meine Hecke zurück geschnitten werden, angeblich fällt nicht genug Licht ins Schlafzimmer, da wird gefragt, ob ich nicht handwerkliche Arbeiten, die Lärm erzeugen, später machen kann, da die Tochter weint, weil sie nicht schlafen kann. (Es war 10 Uhr am Vormittag und die Tochter ist 18 Jahre alt!!!) Meine Nachbarn kommen aber nur an den Wochenenden im Sommer. Ich lege mich früh ins Bett, muss Morgen früh raus. Am nächsten Morgen holt mich Don Fabian mit seinem Taxi ab. Er war bei der Polizei, durfte früh in Pension gehen, mit 44 Jahren. Er verdient sich mit seinem Taxi etwas hinzu. „Das machen viele Polizisten,“ sagt er. Wir kommen auf die Küstenstraße, fahren an Claudias Haus vorbei, sie winkt. Eine ältere Frau steht neben ihr. Wahrscheinlich ihre Mutter. Sie schauen mir beide nach. Ich winke ihnen noch einmal zu, bevor wir um die Kurve verschwinden. Don Fabian fragt mich: „Kennen sie diese Frau?“ – „Ein wenig“, sage ich. „ Claudia Palma heißt sie“, sagt Don Fabian. „Sie ist eine sehr schöne Frau, aber etwas merkwürdig. Scheint etwas eingebildet zu sein, hat keinen Freund.“ Wir fahren nach Concepción zum Flughafen, etwa 60 Kilometer. Die Fahrt dahin kostet mich umgerechnet 15 Euro. „Bis zum nächsten Jahr,“ sagt Don Fabian. Wenige verabschieden mich, einige Freunde und Verwandte meiner Frau. Ich hasse Abschiede. 2 Fast ein Jahr ist vergangen, ich habe an der Universität Kurse über „kreatives Schreiben“ besucht, an zahlreichen Buchbesprechungen teilgenommen, mache jetzt Schreibversuche, Kurzgeschichten interessieren mich. Auf die Buchbesprechungen bereite ich mich immer sehr gründlich vor. Bin öfter anderer Ansicht über die Qualität eines Buches als die anderen Studenten und gerate in heftige Diskussionen mit den Professoren. Ich glaube, dass sie manchmal das betreffende Buch überhaupt nicht gelesen haben. Ich habe mir vorgenommen, einen Kriminalroman während der nächsten drei Monate in Chile zu schreiben. Mein Professor sagte, Bücher aus diesem Genre könne man ziemlich leicht bei Verlagen unterbringen. Es gäbe da sehr viel Mist, der aber gekauft und gelesen würde. „Wenn der erste Satz etwas taugt, wird weiter gelesen,“ meinte er. Vielleicht gelingt es mir, einen Krimi bei einem Verlag unterzubringen, ein bisschen Geld könnte ich gut gebrauchen. Auf dem Flugplatz in Concepción erwarten mich Schwestern meiner Frau mit ihren Ehemännern, Monica und Doris mit Pancho und Juan. Sie begrüßen mich herzlich und freuen sich, dass ich angekommen bin. Am nächsten Sonntag wollen sie mich besuchen, einen Hammel mitbringen und bei mir grillen. Fische räuchern wollen wir auch. Ich steige in das Taxi von Don Fabian, er freut sich wohl auch, dass ich wieder da bin. Ein guter Kunde bin ich für ihn. Ich habe kein Auto hier, das würde sich nicht lohnen, es würde jährlich neun Monate herumstehen. „Wie war die Reise?“ fragt er. „Ziemlich anstrengend, 30 Stunden von Haus zu Haus. Das Flugzeug war voll besetzt. Mein Koffer war zunächst einmal verschwunden, tauchte dann aber wieder auf. Beim Anschlussflug von Santiago nach Concepción gab es auch Schwierigkeiten. Die wollten, dass ich Übergepäck bezahlen sollte. Ich erklärte, dass ich das schon in Frankfurt gemacht hätte. Nach längeren Verhandlungen erkannten sie das auch an.“ „Bei Ausländern versuchen die immer alle Tricks, haben dann aber sicher gemerkt, dass bei Ihnen nichts zu machen ist. Wenn jemand spanisch wie Sie spricht, geben die Brüder bald auf,“ meint Fabian. Ich frage ihn nach seiner Familie, nach seinem Sohn, der operiert werden sollte, eine Mandeloperation, wie er mir damals gesagt hatte. „Alles in Ordnung bei uns“, sagt er. „Sie haben ihn im Deutschen Krankenhaus operiert, wo meine Frau als Hebamme arbeitet.“ Sommer ist es hier, früher Nachmittag, blauer Himmel, eine ziemlich Hitze. An den Straßenrändern verdorrtes Gras. Es hat wohl längere Zeit nicht geregnet. Viele neue Straßen sind gebaut worden Don Fabian schaut mich etwas merkwürdig an, irgendetwas will er mir sagen, denke ich. Wir fahren durch Penco, hier sieht alles noch genauso aus wie vor vielen Jahren. Wenn man in den Ort kommt steht da ein großes einstöckiges Gebäude, der Putz ist von den Wänden abgefallen. Es soll eine Sporthalle gewesen sein, in der viele Boxkämpfe stattfanden. Weiter geht es durch Lirquén, einem kleinen Fischerort. Hier haben wir früher in den Wohnungen von Fischern Muscheln gegessen und neuen Wein getrunken. Alles war sehr billig. Einmal mussten wir eine Frau ins Krankenhaus bringen, sie hatte einen Eiweißschock von den vielen Muscheln erlitten. Wir kommen am Krankenhaus vorbei, hier ist mein Freund Edgardo Direktor. Es kommt bis Tomé kein Gespräch wieder auf. „Hier hat gerade ein Streik begonnen“, sagt Don Fabian, „die wollen die Textilfabrik schließen, 2000 Arbeitsplätze werden verloren gehen.“ Arbeiter stehen vor der Fabrik und halten Schilder hoch, auf denen zum Streik aufgerufen wird. Ich erinnere mich, dass es schon in den achtziger Jahren hier Probleme gab, Teile der Fabrik wurden stillgelegt. Eine Organisation aus der Schweiz schickte eine Menge Geld, ehemalige Textilarbeiter sollten Landwirte werden. Ein Schweizer hatte dann den Ort besucht, konnte keine Landwirte finden, auch keine Mühlen, in denen angeblich das Getreide gemahlen wurde. Ich hatte damals einen Brief von ihm ins Spanische übersetzt. Er forderte Aufklärung, was mit den Geldern geschehen war. Nichts war geschehen, die Gelder blieben verschwunden. Weitere Briefe sollte ich dann nicht mehr übersetzen. Das alles sei ein Missverständnis, meinten die Träger des Projekts. Verschiedene Projekte habe der Schweizer nicht gesehen, da die Leute gerade in den Ferien verreist waren, wurde mir gesagt. Man muss mich für einen Idioten gehalten haben, Leute aus einem Elendsviertel verreisen nie! Als wir den Ort verlassen, sagt Fabian beiläufig, zumindest versucht er sich so zu geben: „Übrigens diese Frau, die Sie im vergangenen Jahr kennen gelernt haben, ich glaube Claudia hieß sie, ist tot.“ Ich schlucke, ziehe meine Zigaretten heraus. „Sie können hier ruhig rauchen, im Flugzeug und auf den Flughäfen hatten sie ja wohl kaum Gelegenheit dazu!“ Ich zünde mir eine Zigarette an, ziehe den Rauch tief ein, fange an zu husten. „Sie sollten sich das Rauchen abgewöhnen“, meint er, „ich rauche seit einem Jahr nicht mehr.“ „Ich sollte mir Manches abgewöhnen, gehe jetzt aber auf die Siebzig zu, da hat das alles keinen Sinn mehr.“ „Sie sehen jünger aus als im vergangenen Jahr“, sagt er, „etwas zugenommen haben Sie aber wie ich auch. Sie sind doch noch längst nicht siebzig.“ „Siebenundsechzig werde ich“, sage ich. Wir verlassen Tomé und fahren Richtung Dichato, biegen dann von der Hauptstraße nach Coliumo ab. Die letzten Kilometer führt eine Straße am Meer entlang, sie ist nicht asphaltiert. „Der Weg zu Ihrem Haus ist ausgebessert worden, man kann jetzt vom Meer her rauffahren. Ich muss jetzt keinen Umweg mehr machen.“ Im letzten Jahr konnte man mit einem Auto ohne Vierradantrieb nicht mehr den direkten Weg hoch fahren, die Straße war zu schlecht. Eine Staubwolke zieht hinter uns her, wir werden bald in Coliumo sein. Ich denke die ganze Zeit an Claudia, hatte auch oft an sie in Deutschland gedacht, war gespannt auf eine Begegnung mit ihr. Viele Fragen wollte ich ihr stellen, hatte sie doch damals gesagt: „Frag mich jetzt nicht, alle deine Fragen werde ich dir einmal beantworten.“ Und immer wieder denke ich an den Satz: „Schlaf bitte mit mir , alter Mann.“ Plötzlich fängt Don Fabian an, wild zu hupen. Vor uns geht ein alter Mann neben seinem Ochsen. Eine Peitsche hat er in der Hand, den Hut weit ins Gesicht gezogen. Er geht neben einem zweirädrigen Wagen, der mit Säcken voller Holzkohle beladen ist. Harte Arbeit ist das, Holzkohle herzustellen. Vor vielen Jahren hatte ich einmal zugesehen, wie das abläuft. „Schauen sie sich das einmal an, da wollten ein paar Jugendliche einen Sack mit Holzkohle vom Wagen klauen, es geht schon wieder hier zu wie früher. Als der General Pinochet noch da war, gab es das nicht. Überall Besoffene, Diebe und Mörder, Kommunisten gibt es auch schon wieder, sie sitzen sogar im Parlament. Die Regierung tut nichts dagegen, kein Wunder, wenn eine Frau, noch dazu Sozialistin, an der Regierung ist.“ Ich lasse mich nicht in Diskussionen über Unterschiede der politischen Lage von früher und heute ein. Er, ehemaliger Polizist, stand sicher auf der Seite der Diktatur, gehört heute noch zu den unbelehrbaren Leuten. Da ist er aber keine Ausnahme in Chile! Die Jugendlichen sind inzwischen verschwunden. „Schauen Sie mal, da bauen die doch tatsächlich ein Hotel direkt an die Straße. Kein Tourist wird hier Ferien machen. Die gehen doch alle nach Dichato. Da haben die wunderschöne Hochhäuser gebaut, da kann man Wohnungen mieten. Der Strand da ist auch viel schöner.“ Ich kann nicht verstehen, dass der Mann es schön findet, wenn Hochhäuser die ganze Landschaft verschandeln. „Ja, die Claudia Palma haben sie vergewaltigt. Sie hat sich dann das Leben genommen, ist von den Felsen ins Meer gesprungen. Das war in der Nacht vom 27. Februar, am 26. sind sie nach Deutschland zurück gefahren. Man hat sie erst gegen Mittag am 28. Februar gefunden.“ „Hat man den Täter?“ „Es waren wohl mehrere, mindestens zwei, die Polizei hat niemanden gefunden, die haben wohl auch nicht zu sehr gesucht. Kein Interesse!“ „Wo ist das denn passiert?“ „Die Claudia kam am Abend irgendwoher von da oben, wo sie wohnen, ging dann nach unten am Meer entlang. Da hat sie jemand gesehen. Dann ist sie wohl den kleinen Hügel von „Los Morros“ hinaufgegangen, auf dem die Madonna steht. Da wurde sie dann überfallen und in die Büsche geschleppt, mehrfach vergewaltigt. Danach ist sie die Steilküste heruntergesprungen.“ Ich schaue aus dem Autofenster. Claudia, die Angst vor Männern hatte, nie einen Freund hatte, vergewaltigt und tot. Wir fahren den steilen Weg zum Haus hoch, er ist tatsächlich ausgebessert worden. Don Fabian hilft mir meinen Koffer auszuladen und fährt dann davon. Ich schließe die Haustür auf, alles sauber geputzt von Campanas Frau, der auf mein Haus aufpasst. Eigentlich heißt er Alejandro, bewegt sich aber wie eine Glocke, schaukelnd von einem Bein zum anderen. Deshalb nennen ihn alle nur Campana. Ich schließe die Tür und setze mich erst einmal in den Sessel am Fenster. Auf dem Fensterbrett liegen noch die Muscheln, die Claudia gesammelt hat. Eine lange Kette wollte sie daraus machen. Ich sehe aus dem Fenster, die Obstbäume sind größer geworden, Blumen blühen überall. Unter einem großen Eukalyptusbaum steht eine Madonna in einer Grotte. Campana hat die Grotte angefertigt im Auftrag meiner Frau. Sie sagt: „Schaden kann das nicht, vielleicht nützt es etwas, und wir werden nicht beklaut!“ Claudia würde ihre Freude daran haben, müsste nicht immer zur Madonna auf den Kleinen Morro gehen. Das Meer in der Bucht ist unruhig, Wellen laufen auf die Küste von Pingueral und Pudá zu. Hier habe ich oft geangelt. Mindest dreißig Kilometer weit kann ich über das Meer sehen. Ein Fischerboot läuft gerade aus. Und ich sehe die Madonna auf dem Kleinen Morro, Luftlinie etwa 800 Meter von meinem Haus entfernt, bei der alles passiert ist. Fortsetzung folgt Geändert von Pedro (05.04.2010 um 18:13 Uhr) |
09.04.2010, 04:48 | #2 |
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3
Ich habe schlecht geschlafen, ab vier Uhr liege ich auf dem Rücken im Bett und starre die Decke an. Bilder und Gedanken aus vergangenen Tagen kommen in mir hoch. Ich saß da auf einem Felsen am Strand und angelte. Angeln war für mich schon immer die beste Entspannung. Es geht dabei nicht in erster Linie darum, dass ich einen großen Fang mache. Ich schaue aufs Meer, rieche die Luft, höre das Rauschen und denke über alles Mögliche nach. Und dann sah ich sie plötzlich auf einem Felsen sitzen, zwanzig bis dreißig Meter von mir entfernt, als sei sie aus dem Nichts aufgetaucht. Merkwürdig, dass ich mich nicht besonders wunderte, dass da eine wunderschöne junge Frau saß und aufs Meer schaute. Ich glaube, es vergingen Stunden. Sie saß immer nur da und schaute aufs Meer. Ich packte mein Angelzeug ein, ging nach Hause, sie schaute hinter mir her. Kein Wort hatten wir miteinander gesprochen. Am nächsten Tag ging ich wieder an den gleichen Platz, ein leichter Wind wehte, sie war nicht da. Ich lachte ein bisschen über mich selbst, was hatte ich da erwartet, wovon hatte ich geträumt? Heute hatte ich etwas Glück, fing endlich einmal einen Fisch, der wohl zwei bis drei Kilo wog. Ich packte ihn in eine Plastiktüte. Dann sah ich sie kommen. Sie ging langsam über den Strand, manchmal durchs Wasser, braun gebrannt, in hellen Shorts, ihre Schuhe trug sie in einer Hand. Eine kurze blaue Bluse hatte sie an, die ein Stück von ihrem Bauch sehen ließ. Sie kam näher und setzte sich. Ich grüßte, sie nickte, sagte nichts, schaute mich nur nachdenklich an. Automatisch hatte ich meinen Bauch etwas eingezogen, so gut das möglich war. Ich versuchte sie möglichst nicht anzustarren, was mir nicht leicht fiel. Welch ein bezaubernder Anblick, als wäre sie in Wirklichkeit gar nicht da, sondern ein Traumbild. Sie saß einfach da und strich sich immer wieder ihre langen Haare aus dem Gesicht. Als sich unsere Blicke einmal trafen, lächelte sie ein wenig. Es wurde langsam dämmrig und kühl. Ein leichter Wind kam auf, ich spürte einen Geruch nach Seetang. Ich packte meine Angelsachen ein, hängte mir die Angeltasche über die Schulter. Als ich mich umdrehte, sah ich sie , sie stand vor mir, trug den Fisch in der Plastiktüte in der Hand, schaute mich kurz an, große blaue Augen hatte sie, und ging dann langsam voraus, immer ein paar Schritte vor mir. Ein Anblick, der mich an alles Mögliche denken ließ. Lange Beine hatte sie und einen attraktiven Hintern. Sie kannte den Weg, wusste, wo ich wohnte. Der steile Anstieg zum Haus schien ihr nichts auszumachen, ich merkte meine Jahre ein bisschen. Ich schloss das Hoftor auf, wie selbstverständlich ging sie vor mir hinein, das Gleiche passierte an der Haustür. Ich war gespannt, wie das nun weitergehen würde. Sie ging gleich in die Küche und fing an den Fisch zu putzen, legte ihn in eine Form, bedeckte ihn mit Zwiebeln und Rosmarin und schob ihn in den Backofen. Sie fragte mich nichts, es war, als wenn sie schon immer in dieser Küche gearbeitet hätte. Ich setzte Reis auf den Herd. Wir hatten immer noch kein Wort miteinander gesprochen, sie schaute mich nur manchmal an und tat alles, dass wir uns in der engen Küche nicht körperlich berührten. Ich ging dann ins Wohnzimmer und machte eine Flasche Sekt auf, stellte zwei Gläser auf den Tisch und füllte sie. Sie kam,, schaute sich die Bilder an der Wand an und setzte sich mir gegenüber. Wir stießen miteinander an. Sie lächelte. Ich erzählte ihr, dass ich aus Deutschland käme, immer drei Monate hier bleiben würde. In Deutschland sei es jetzt kalt, Winter, Schnee, sprach über Arbeiten am Haus und im Garten, dass ich einmal in Concepción an der Deutschen Schule gearbeitet hatte. Ob sie das überhaupt interessierte, konnte ich nicht feststellen. Sie stand auf, ging ans Regal und schaute sich die Bücher an, nahm ein Buch über die Evolution heraus, setzte sich wieder mir gegenüber in den Sessel, schlug ihre langen Beine übereinander und fing an zu lesen. Bei so einem Anblick dachte ich im Allgemeinen immer an Bettszenen, diesmal nicht. Ich wunderte mich über mich selber. Sicherlich eine Alterserscheinung dachte ich, ich müsste mir wohl bald Viagra zulegen. Wir aßen dann zusammen, tranken den Rest Sekt. Sie half mir abzuräumen, wusch dann das Geschirr, ich trocknete ab. Danach ging sie zur Haustür, ich begleitete sie zum Hoftor, wollte mich von ihr verabschieden, wie das hier üblich ist, mit einem Kuss auf die Wange, sie zuckte zurück. Dann sah ich ihre typische Bewegung zum ersten Mal, sie hob die Schultern etwas an, versuchte ein mühsames Lächeln, schaute mich an, als wenn sie sagen wollte: „Da kann man eben nichts machen!“ Sie ging den Weg entlang, sah sich nicht einmal um und verschwand. Ich bin traurig und maßlos wütend. Claudia, die Angst vor Männern hatte, Claudia, die mir viele Fragen beantworten wollte, Claudia, die zu mir gesagt hat, dass sie sich freuen würde, wenn ich wiederkäme, diese Claudia gibt es nicht mehr. Irgendwelche Unmenschen haben sie vergewaltigt. Ich erinnere mich an Claudias typische Bewegung, Schultern hoch ziehen, mühsam lächeln, als wenn sie sagen wollte: „Da kann man eben nichts machen!“ Da kann man etwas machen, da werde ich etwas machen, da werde ich mich einsetzen mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Deine Geschichte kenne ich nicht, Claudia, aber ich bin dir begegnet, war mit dir zusammen, wenn auch nur für eine kurze Zeit, war glücklich. Ich weiß, dass du auf dem Weg warst, dich besser zurecht zu finden, dass du dabei warst, dem Traum des Lebens nach Glück etwas näher zu kommen. Das alles hast du nicht erreichen können. Für dich und auch für mich werde ich versuchen, ein bisschen mehr Gerechtigkeit zu erreichen, auch wenn ich weiß, dass es keinen Anspruch auf sie gibt. Geändert von Pedro (11.04.2010 um 11:32 Uhr) |
09.04.2010, 11:01 | #3 |
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Kapitel 4 und 5 stelle ich nicht ein, sonst wird die Geschichte zu lang. Es handelt sich dabei Land und Leute und einem Familientreffen.
Der Taxifahrer, Don Fabian, hat früher bei der Polizei gearbeitet. Er hat für mich einen Termin bei der Polizei in Tomé vereinbart. 6 Pünktlich um 10.00 Uhr komme ich zur Polizeistation in Tomé. Am Eingang steht ein Polizist, der mich direkt zu Major Orlando Lorenzo bringt. Wir gehen durch einen langen Gang. Verschiedene Leute sitzen da herum, Männer und Frauen. Sie machen bedrückte Gesichter. Am Ende des Ganges ist Major Lorenzos Büro. Er sitzt hinter einem alten Schreibtisch. Die schwarzen Haare auf seinem runden Schädel sind kurz geschoren, dunkle, sehr lebhafte braune Augen blicken mich an. Ich erkenne ihn sofort wieder. Vor fünfundzwanzig Jahren bin ich ihm einmal begegnet. Er bietet mir Platz in einem bequemen Sessel an. An den Wänden hängen Bilder von chilenischen Kriegshelden, ein General auf seinem Pferd, Soldaten marschieren. Er begrüßt mich freundlich und zuvorkommend: „Sie sind also Deutscher, die Deutschen sind alle tüchtige Leute, da herrscht Disziplin, da geht es nicht so zu wie bei uns. Meine Frau hat deutsche Vorfahren. Wir wollten schon immer mal nach Deutschland fahren, aber die Reise ist ziemlich teuer, da wird wohl nichts daraus. Sagen Sie mal, fahren da wirklich alle Leute in einem Mercedes herum?“ „ Da wird viel erzählt, die meisten haben keinen Mercedes.“ „ Aber alle haben ein Auto, sogar Arbeitslose, habe ich gehört!“ „Ja, die meisten haben ein Auto.“ „ Lange Zeit war Deutschland geteilt, habe ich gehört. In einem Teil regierten Kommunisten, das hat sich aber jetzt , Gott sei Dank, geändert. Da ist es nicht wie bei uns, wo die Kommunisten sogar im Parlament sitzen! Der General Pinochet hatte mit denen aufgeräumt, aber jetzt ist es fast wie früher. Ich war damals bei den Streitkräften und habe alles getan, was möglich war, um das Land vor dem Kommunismus zu retten, aber jetzt geht es schon wieder los!“ Ja, du hast wirklich alles getan, was möglich war, denke ich, und viel Glück hast du gehabt, dass du heute vor mir sitzt! „ Bei uns gibt es auch eine kommunistische Partei“, erkläre ich ihm, „ sie sitzt aber nicht im Parlament, erhält zu wenig Stimmen bei Wahlen.“ „Unser gemeinsamer Freund, Don Fabian hat sie sehr empfohlen, hat mir erzählt, dass sie ein Buch über diese Gegend hier schreiben und sich auch für den Fall Claudia Palma interessieren. Um was geht es da in ihrem Buch?“ „Wissen sie, ich habe von 1980 – 1985 an der Deutschen Schule gearbeitet, war dort stellvertretender Schulleiter. Habe da auch meine Frau, eine Chilenin, kennen gelernt. Wir werden in absehbarer Zeit von Deutschland nach Chile umziehen, ich habe ein Haus in Coliumo. Ich liebe das Land, sein Klima, seine Landschaften und die Menschen hier. Ich möchte, dass auch Menschen in Deutschland erfahren, wie angenehm es sich hier leben lässt, wie freundlich und hilfsbereit alle Chilenen sind. Ich schreibe also über das Leben der Menschen hier.“ Ich hoffe, dass ich nicht zu dick aufgetragen habe. Major Lorenzo bleibt aber weiterhin freundlich. „Ich nehme an, dass sie in ihrem Buch dann auch die Arbeit der Polizei hier erwähnen.“ „Selbstverständlich, ich werde, wenn ich darf, sie sogar namentlich nennen, als Leiter der hiesigen Polizeistation.“ Major Lorenzo ist sichtlich erfreut, in einem Buch erwähnt zu werden. „Protokolle über unsere Arbeit kann ich natürlich nicht an Privatpersonen weiter geben. Sie wissen ja schon, dass die Frau Palma wahrscheinlich von zwei Männern vergewaltigt wurde und sich dann das Leben genommen hat. Die Täter konnten wir leider nicht finden. In diesen elenden Fischerdörfern ist man nicht sehr geneigt, mit der Polizei zusammen zu arbeiten. Wir mussten den Fall also als ungelöst abschließen.“ Er nimmt einen Ordner, der auf seinem Schreibtisch liegt, in die Hand, er ist ziemlich dünn, blättert ein wenig umher und sagt dann: „Ich muss jetzt leider mal weg zu einer wichtigen Besprechung, die hatte ich ganz vergessen. Ich werde erst in zehn Minuten zurückkommen, bitte warten sie auf mich.“ Er steht auf, schiebt den Ordner wie unbeabsichtigt in meine Reichweite und geht hinaus. Ich schaue ihm nach, etwa 1,70 Meter ist er groß, eine gedrungene Gestalt, etwas füllig. Er war mal schlanker, sein abgetragener dunkler Anzug klebt am Körper, heute trägt er keine Uniform. Ich nehme an, dass er mir den Ordner zur Einsicht überlassen hat. Ich öffne ihn und beginne zu lesen. Da ist zunächst eine Zeugenaussage. Ein Mann, Jorge Silas, hat Claudia am 27. Februar 2006 in Richtung Los Morros gehen sehen. Es war etwa gegen 21.00 Uhr und dunkelte schon. Sie ging alleine. Nachbarn haben ausgesagt, dass Claudia Palma öfter um diese Zeit zur Jungfrau Maria auf dem Hügel gegangen sei. Am 28. Februar 2006 wurde Claudia Palma vom Fischer Roberto Sanchez gegen Mittag gefunden. Sie lag teilweise im Wasser zwischen den Felsen unterhalb des Hügels, wo die Statue der Jungfrau Maria steht. Eine Polizeistreife traf 30 Minuten später ein, Claudia Palma wurde zur Autopsie nach Concepción gebracht. Eine Spurensuche ergab, dass auf dem Hügel der Jungfrau ein Art Kampf statt gefunden hatte, mehrere Personen mussten daran beteiligt sein, das Gras war völlig niedergetreten, man hat Fußabdrücke von drei verschiedenen Personen gefunden. Beiliegende Fotos bestätigen das. Befragung der Bevölkerung ergab keine Hinweise. Die Autopsie wurde von Dr. Sergio Sierra durchgeführt. Er stellte fest, dass Claudia Palma wahrscheinlich mehrfach vergewaltigt wurde. Blutergüsse, Hautabschürfungen, Bruch des linken Wadenbeins wurden zumindest teilweise durch den Sturz der Claudia Palma vom Felsen herbeigeführt. Die eigentliche Todesursache war ein Schädelbasisbruch. Ob und welche Verletzungen Claudia Palma vor ihrem Sturz erhalten hat oder erst danach, kann ich nicht aus dem Protokoll ersehen. Ob sie freiwillig von der Klippe gesprungen ist oder gestoßen wurde, ist ebenfalls nicht erwähnt. D N A – Proben zur Ermittlung der Täter konnten nicht genommen werden, da Claudia Palma zu lange im Meereswasser gelegen hatte. Der Autopsiebericht liegt nicht bei. Ich höre Major Lorenzo im Vorzimmer seines Büros, er spricht mit seiner Sekretärin im Vorzimmer, ich legte den Ordner wieder zurück. „Es tut mir Leid, dass ich ihnen nicht helfen konnte“, sagt er, „alles, was möglich war, habe ich für sie getan.“ Er schaut dabei zuerst auf mich, dann auf den Ordner. „Vielen Dank für ihre freundliche Zusammenarbeit, ich werde sie in meinem Buch erwähnen. Ich wünsche ihnen eine gute Zeit.“ Ein Polizist begleitet mich wieder zum Ausgang, die Sonne knallt mir ins Gesicht. Viel weiter bin ich nicht gekommen. Die Leute drängen sich auf den Gehwegen, da wird gehupt und geschrieen, da wartet eine ganze Gruppe auf den Bus nach Concepción. Vor einer Bank steht eine lange Schlange von Menschen. Sie holen ihre miserable Rente ab, stehen teilweise schon zwei Stunden vor der Öffnung der Bank an, um dann schneller dranzukommen. Nur ein Schalter wird für diese Leute geöffnet. Andere Bankkunden werden an anderen Schaltern sofort abgefertigt. Und dann fällt mir ein Mann zum ersten Mal besonders auf, er scheint mich zu beobachten. Ich habe ihn schon gesehen, als ich in die Polizeistation ging. Er ist etwa dreißig Jahre alt, schwarze Locken hat er, die aus einer Kappe herausschauen, abgetragene Cordhosen trägt er, die ihm viel zu groß ist und an seinem mageren Körper herunterhängt, dazu ein rotes Hemd. Wegen seines Aussehens und seiner Kleidung glaube ich, dass das ein Mann aus irgendeinem Elendsviertel ist. |
11.04.2010, 06:02 | #4 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Dieses Kapitel hatte ich schon einmal als Kurzgeschichte eingestellt: „Paula“.
7 Ich denke an Major Lorenzo. Damals war er Leutnant. Lange ist es her. Und ich erinnere mich, als wenn es gestern gewesen wäre. Herbst wie mit Wasserfarben gemalt. Gestern hatte es geregnet, jetzt fielen Sonnenstrahlen durch die Bäume, bunte Blätter schwebten herab, Wasserdampf stieg vom Boden auf. Im Hintergrund hörte man Verkehrslärm, leise, wie ein Rauschen. Der Pfarrer stand vor der Grube, der Sarg war schon herunter gelassen worden. Vier Männer hielten noch die Seile in ihren Händen. In ihren abgetragenen dunklen Anzüge sahen sie aus wie Obdachlose. Es roch nach feuchter Erde. Ihre Eltern und einige wenige Freunde standen nahe beieinander hinter dem Pfarrer vor dem Grab, als ob sie sich gegenseitig vor etwas schützen wollten, versteinerte Gesichter. Paulas Mutter weinte, eine schmale, schlanke, blasse Figur. Ihr Vater stützte sie, blickte hilflos zu Boden. Etwas abseits zwei Männer in langen Mänteln, Hüte ins Gesicht gezogen. Einer hatte einen Fotoapparat in der Hand, fotografierte, der andere schrieb etwas in ein kleines Notizbuch. Ich schaute in das Grab. Ein paar Blumen lagen auf dem Sarg und ein Kranz. Ich sah noch einmal den Blumenstrauß an, den ich in der Hand hielt, gelbe Rosen, die hatte sie gemocht. Ich bückte mich etwas, als wollte ich sie auf den Sarg legen, ließ sie dann hinunter fallen. Ein leichter Wind wehte Regentropfen von den Bäumen. Ich sah nach oben und Tropfen liefen über mein Gesicht. Ich dachte an alles, was ich und Paula zusammen gemacht hatten, was wir noch machen wollten, an unsere Pläne, an Diskussionen, an Utopien. Ich hatte Paula lachen und weinen gesehen, sah ihre blauen Augen vor mir, die immer etwas traurig blickten, spürte noch ihre langen schwarzen Haare in meinem Gesicht, die immer leicht nach Essig rochen. Der Pfarrer schaute in seine Bibel, sprach von einem tragischen Verkehrsunfall, im Glauben läge Trost. Er sprach sehr leise, unsicher, als wenn er selber nicht an seine Worte glauben würde. Überzeugte Atheistin war sie gewesen. Angeblich war sie von einem Lastwagen überfahren worden, der Fahrer konnte nicht gefunden werden. Ich wusste es besser, man hatte sie eine Woche lang festgehalten, gefoltert und dann absichtlich überfahren. Vierundzwanzig Jahre war sie alt geworden, und ich hatte sie geliebt. Frühling, die Sonne schien wieder wie beim letzten Mal, als ich hier war. Paulas Grab liegt an der Nordseite des Friedhofs, nahe der Mauer. Langsam ging ich den Hauptweg entlang, die Bäume waren noch fast kahl, bog dann nach links und sah Paula vor ihrem Grab stehen. Ihre langen schwarzen Haare wehten im Wind. Sie wendete mir den Rücken zu, bewegte sich nicht, stand einfach nur da. Ich blieb stehen, wusste irgendwoher, dass sie wieder verschwinden würde, wenn ich näher käme. Jetzt strich sie sich über ihr Haar, als wenn sie es festhalten wollte. Blaue Jeans hatte sie an und trug die schwarze Strickjacke, in der ich sie fast immer gesehen hatte. Nur noch wenige Schritte trennten uns. Ihr Haar roch immer noch ein wenig nach Essig. Sie bückte sich, ordnete Blumen, die auf ihrem Grab lagen, richtete sich wieder auf. Ich streckte meine Hand aus, wollte sie an der Schulter berühren. Die Gestalt löste sich auf, ich konnte sie nicht mehr sehen, stand alleine da, als wenn sie nie da gewesen wäre. Es lagen keine Blumen mehr auf dem Grab, auf den Grabstein hatte jemand mit weißer Farbe das Wort „Terroristin“ gesprüht. Ich ging zu einem Wasserhahn, machte mein Taschentuch nass und versuchte die Schmiererei am Grabstein abzuwaschen. Sie war schon längere Zeit an dem Stein. Ich rieb und rieb, aber die Schrift ließ sich nicht löschen. „Mensch, Paula“, sagte ich leise. Eine ganze Weile stand ich noch da, dann ging ich zum Auto zurück. Richtung Norden fuhr ich, viel Verkehr. Überall wurde renoviert. Frauen liefen herum, trugen große Körbe, ein zweirädriger Wagen mit Säcken beladen, ein kleines Pferd davor, zwischen Autos und Bussen. Ich kam in die Vorstadt. Ruhig war es hier. Große Grundstücke, Häuser nach amerikanischem Vorbild, Schwimmbäder. Ein Gärtner schnitt eine Hecke, ein Hund lief über die Straße. Hier wohnten Leute mit Geld und Offiziere. Dann bog ich nach links ein und hielt am Anfang der Seitenstraße an. Von hier aus konnte ich den Eingang des Hauses genau beobachten. Die Haustür ging auf, eine junge Frau kam mit zwei kleinen Mädchen und dem Dienstmädchen heraus. Sie drehte sich noch einmal um, rief etwas, ich konnte es nicht verstehen, und winkte ihrem Mann an der Tür zu. Sie stieg in ein Auto und fuhr an mir vorbei in die Stadt. Den Mann hatte ich öfter gesehen, Leutnant der Armee. Er arbeitete für den Geheimdienst. Es war nicht leicht gewesen, ihn zu finden. Ich öffnete das Handschuhfach und nahm den Revolver heraus, entsicherte ihn. Colt, Kaliber 38, kurzer Lauf. „Wenn du wenig Ahnung von Waffen hast, ist das die geeignete Waffe für dich,“ hatte mir einmal jemand erklärt. „Du musst nicht genau schießen können, das Kaliber haut jeden um, egal, wo er getroffen wird. Danach kannst du nahe herangehen und alles mit einem weiteren Schuss beenden.“ Ich würde sehr nahe herangehen, ein zweiter Schuss würde nicht notwendig sein. Sechs Patronen waren in der Trommel, ich würde nur eine brauchen, dachte ich. Ich steckte den Revolver in die rechte Manteltasche und umklammerte ihn fest. Ich stieg aus dem Auto. Die Haustür war wieder geschlossen, der Mann war wieder hineingegangen. Langsam betrat ich das Grundstück, das Tor war offen. Ich ging die Einfahrt entlang, drehte mich noch einmal um, alles war ruhig auf der Straße. Ich klingelte, der Name Lorenzo stand an der Tür, hörte dann Schritte, die Tür wurde geöffnet. Bratenduft kam mir entgegen. So nahe war ich dem Mann noch nie gekommen. Er lächelte freundlich und fragte, ob er mir helfen könne. Wenn ich nicht so viel über ihn gewusst hätte und er keine Uniform getragen hätte, wäre er mir sympathisch gewesen. Etwa 25 Jahre war er alt, mittelgroß, kurzer Haarschnitt, eine angenehme Stimme hatte er. Seine Augen irrten umher, als wenn sie etwas suchten, er schaut mich nicht direkt an. Er wusste noch nicht, dass er seine Haustür zum letzten Mal geöffnet hatte, dass er seine Frau und seine Kinder nie wieder sehen würde, dass er nie wieder Befehle geben würde, andere zu foltern oder umzubringen, dachte ich damals. Er kam einen Schritt aus der Tür, stand jetzt direkt vor mir. Ich werde das jetzt erledigen, dachte ich, zum Auto zurücklaufen und zum Flugplatz fahren. Das Flugtiquet hatte ich schon. Sollte jemand sich die Autonummer gemerkt haben, würde das wenig nützen. Es war mir heute Morgen übergeben worden, man hatte es gestohlen. Was ich hier mache, ist gerecht. Angst müssen wir verbreiten, jeder von denen muss wissen, dass es ihm genauso ergehen kann, glaubte ich damals. Ich fasste die Waffe fester, würde sie gleich brauchen und fragte den Offizier: „Wohnt hier eine Familie Gonzales?“ „ Gonzales ? Nein, ich wohne schon längere Zeit hier, eine Familie Gonzales wohnt hier in der Gegend nicht. Haben Sie die genaue Adresse?“ Er schaute mich jetzt an. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber man hat mir erklärt, dass sie hier in diesem Viertel wohnen würde.“ „Moment, wenn Sie wollen, kann ich einen Anruf machen, dann wissen wir die genaue Adresse sofort.“ „Vielen Dank“, sagte ich, „ich will sie nicht unnötig belästigen.“ „Kommen sie nur rein, das kann ich schnell erledigen.“ Ich wusste, dass er alleine im Haus war. Ein bessere Gelegenheit konnte es gar nicht geben, es würde viel leichter sein, als wir gedacht hatten. Ich ging ins Haus, er schloss die Tür. „Sie sind Ausländer? Amerikaner?“ „Nein, Deutscher.“ „Ich bewundere die Deutschen, ihre Kultur, Goethe und Wagner, sie haben die beste Armee der Welt!“ „Wir haben fast alle Kriege verloren“, sagte ich leise. Das schien ihm neu zu sein. „Wirklich?“ Ich hatte immer noch die Hand in der Manteltasche. „Jemanden umzulegen ist nur beim ersten Mal nicht leicht, man gewöhnt sich daran, wie man sich auch an alles andere gewöhnt“, hatte man mir gesagt. „Und immer daran denken, dass wir uns für eine gerechte Sache einsetzen, dass wir nur mit gleicher Münze zurückzahlen.“ Und ich erinnerte mich wieder an den Satz: „Wenn hier einer weniger weint, hat eure Arbeit einen Wert gehabt“. Das hatte mir eine alte Frau gesagt, deren Sohn umgebracht worden war. Würde sie weniger weinen? Würden weniger weinen? „ Mir ist gerade eingefallen, dass meine Frau die genaue Adresse hat, es ist auch nicht so eilig“, sagte ich. Ich nahm die Hand aus der Manteltasche, bedankte mich, er ließ mich wieder raus und winkte. Ich ging langsam zum Auto zurück und fuhr weg |
12.04.2010, 05:09 | #5 |
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8
Da rennt der Deutsche in Tomé herum. Er geht in die Polizeistation und kommt erst nach einer Stunde wieder raus. Einer aus Coliumo hat mir erzählt, dass er merkwürdiges Interesse an Claudia Palmas Tod hat, stellt überall Fragen, hat sie gekannt. Ich habe gedacht, dass der Fall für mich erledigt sei, keiner kann da irgendetwas erzählen, auf mich kann eigentlich kein Verdacht fallen. Das war so eine Geschichte. Was geht diese Frau auch immer so aufreizend umher, macht alle Männer an und lässt sich dann auf nichts ein. Das war so ein Scheißtag, hatte mal wieder meine Arbeit verloren und traf auch noch Jorge, der eine Flasche Pisco dabei hatte. Wir haben uns dann ans Meer gesetzt und die Flasche leer gemacht. Ich wollte dann nach Hause, aber der Jorge hat gesagt: „Pass mal auf, um diese Zeit kommt immer die Claudia vorbei, die rennt immer zur Madonna hin, vielleicht ergibt sich da was für uns.“ Ja, die kam dann tatsächlich, und dann ist der ganze Mist passiert. Ich dachte, dass das alles kalter Kaffee ist, längst vergessen, da ich nun allein übrig bin. Der Jorge ist ja dann irgendwann im Meer ersoffen, das war auch so besser. Der konnte noch nie seine Klappe halten. Kein Wunder, der war ja fast immer besoffen. Und da kommt jetzt dieser Deutsche und fängt an herumzuschnüffeln. Eigentlich kann der ja nichts herausfinden. Verdammt, die hängen mir dann noch einen Mord an, den der Jorge begangen hat, dieser Idiot. Bei mir ging immer alles schief. Wenn man in einem Elendsviertel auf die Welt kommt, ist man von Anfang an verratzt. Das kann sich keiner vorstellen, wie wir da gelebt haben. Fünf Geschwister hatte ich noch, drei sind gestorben, weil wir kein Geld für den Doktor hatten. Im Winter haben wir gefroren, reingeregnet hat es in unsere Hütte. Mein Vater war immer besoffen, ist dann bald spurlos verschwunden. In eine Schule bin ich nur ganz kurze Zeit gegangen, hatte dann keine Zeit für so ein Zeug. Anfangs habe ich meiner Mutter mit kleinen Diebstählengeholfen geholfen, irgendwelchen dämlichen Touristen habe ich den Geldbeutel gestohlen. Ich wurde dann aber immer besser, merkte dann aber, dass man so nichts ändern konnte. Einbrüche in Villen haben dann begonnen. Ich habe immer vorgezogen, alleine zu arbeiten, auf andere verlasse ich mich nur ungern. Dann ging das mit den Drogen los, da war wirklich ein Haufen Geld drin. Ich konnte sogar etwas sparen, mir ein kleines Apartment im Zentrum leisten. Arbeit habe ich dann gefunden, habe im Wald gearbeitet und Fischern geholfen. Das lief in letzter Zeit ganz gut, und jetzt kommt dieser Scheiß auf mich zu. Geändert von Pedro (14.04.2010 um 11:17 Uhr) Grund: R-Fehler |
13.04.2010, 04:38 | #6 |
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9
Claudia kommt zu meinem Haus hoch. Sie hat einen kleinen Korb mit Obst mitgebracht, fragt mich dann , ob ich gerne Obst äße. Ich werde nicht recht schlau aus ihr. Beim letzten Mal hat sie kein Wort gesprochen, heute tut sie, als wenn wir schon längere Zeit befreundet wären. Ich verstehe nicht, dass sie sich jetzt so zwanglos gibt, ihr müsste doch klar sein, welche Wirkung eine so attraktive junge Frau auf einen Mann ausübt, zumal wenn er schon älter ist. Sie gibt mir die Hand: „Ich heiße Claudia, Claudia Palma und wohne da unten mit meiner Mutter zusammen.“ Eine angenehme Stimme hat sie. „Ich heiße Peter, hier sagen sie zu mir Pedro.“ Wir sitzen auf der Terrasse, sie hat sich ein Buch über Evolution herausgeholt. „Sag mal, glaubst du an Gott?“ fragt sie mich ernst. Sie bewegt dabei die Lippen, als wenn sie die Worte schmecken würde. „Nein!“ „Du Ärmster!“ „Warum Ärmster?“ „Na ja, da hast du ja niemanden, der dir helfen könnte.“ „Ich kenne schon ein paar Menschen, die mir helfen, wenn ich Hilfe brauche.“ „Menschen, das ist was ganz anderes, die können nicht immer helfen, aber Gott kann es!“, sagt sie und streicht ihre Haare aus dem Gesicht.. „Hat er dir schon mal geholfen?“ „Ja, natürlich.“ „Hat er dir immer geholfen, wenn du Hilfe brauchtest?“ Sie schaut mich nachdenklich an, zieht die Schultern hoch und sagt: „Immer nicht!“ „Hat er dir schon mal nicht geholfen, als du seine Hilfe unbedingt gebraucht hast?“ „Ja, zweimal nicht“, sagt sie schnell. Ich hätte gerne gewusst, wann ihr Gott ihr nicht geholfen hat, einschneidende Ereignisse müssen es gewesen sein, dass sie sich so schnell und genau erinnert. „Bist du verheiratet“, frage ich sie. „Nein!“ „Hast du einen Freund?“ „Nein!“ Das verstehe ich nicht, dass so eine attraktive Frau keinen Freund hat. „Warum hast du keinen Freund?“ Sie zögert mit der Antwort, sucht nach Worten, sagt dann: „Ich möchte keinen haben!“ „Hast du eine Freundin, mit der du zusammen lebst?“ Sie lächelt mich an, „nein, so bin ich nicht veranlagt!“ Sie fragt mich dann, ob ich verheiratet sei. „Ja, ich habe einen Sohn und zwei Töchter, meine Frau ist jünger als ich, arbeitet noch. Ich war Lehrer und bin jetzt pensioniert.“ „Und deine Frau lässt dich so ganz alleine verreisen? Hat sie keine Angst, dass du ihr untreu sein könntest?“ Ich muss lachen. „Ja, vielleicht würde ich schon gerne manchmal ein bisschen untreu sein, aber in meinem Alter ist das gar nicht mehr so leicht!“ „Wenn ich einen Mann hätte, würde ich ihn nicht allein reisen lassen, ich wollte immer dabei sein.“ „Wenn man längere Zeit verheiratet ist, sieht das ein bisschen anders aus“, sage ich nachdenklich. „Leider!“ |
14.04.2010, 08:18 | #7 |
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Dieses Kapitel stelle ich verkürzt ein. Was nicht wichtig ist für den Fortgang der Geschichte, habe ich gestrichen.
10 Ich komme am Haus von Don Marcelo vorbei. Es ist das einzige Haus hier an der Küste, das ein größeres Grundstück hat, Schwimmbad, große Terrasse. Don Marcelo besitzt mehrere Boote, die er an Fischer verleiht. Er fährt einen Mercedes, es scheint ihm finanziell blendend zu gehen. Ich gehe weiter, komme an die offene Seite der Bucht, laufe am Meer entlang. Hier stehen einige Wochenendhäuser. Dann steige ich den Hügel auf einem schmalen Pfad empor und komme zur „Jungfrau Maria“. Sie steht da, schaut über das Meer und soll Menschen in Not helfen. Claudia hat sie nicht geholfen. Ich erinnere mich an die Fotos, die ich bei der Polizei in Tomé gesehen habe. Etwas unterhalb der Maria ist ein fast ebener Platz, so groß wie ein Doppelbett. Hier war Claudia in den letzten Minuten ihres Lebens. Von hier kann man mein Haus auf dem Berg sehen, die Fahnen, die Terrasse. Und wenn es dunkel ist, sieht man das Licht am Hauseingang. Das Gras hat sich längst wieder aufgerichtet, ist wieder gewachsen, man kann nicht mehr sehen, was da passiert ist. Direkt hinter dem ebenen Platz beginnt die Steilküste, fällt etwa 20 Meter zum Meer hinab. Über zerklüftete Felsen rollen Wellen. Möwen fliegen vorbei. Ich habe einmal in einem Krimi gelesen, dass der Tatort genauestens untersucht wird, jeder Zentimeter kann wichtig sein. Es ist zwar schon fast ein Jahr vergangen, aber ich knie mich auf den Boden, schaue die Erde an und taste den Boden ab. Ich glaube kaum, dass ich nach so langer Zeit etwas finden könnte, was mit der Tat zu tun haben könnte. Das Einzige, was hier liegt, scheinen Kronkorken von Bierflaschen zu sein, jede Menge. Es ist heiß, ich ziehe meine Jacke aus. Durst habe ich. Das Ganze hat doch überhaupt keinen Sinn, denke ich. Ich stehe vom Boden auf, ziehe meine Jacke wieder an. Als ich gerade weggehen will, sehe ich etwas in der Sonne blitzen, sicher wieder ein Kronkorken denke ich. Ich will aber genauer sehen, um was es sich handelt. Da ist das Blitzen schon wieder verschwunden. Als ich wieder durch die Gegend schaue, sehe ich es wieder. Das soll etwas mit dem sogenannten „Blinden Fleck“ zu tun haben, den man im Auge hat, habe ich mal gelesen. Wenn man manchmal etwas genauer fixieren will, verschwindet es. Dann sehe ich es wieder. Ich gehe hin, bücke mich und hebe einen Knopf auf. Der Knopf ist aus Metall, rund und dick, etwas verrostet, so etwas habe ich an bayrischen Trachten in Deutschland gesehen und irgendwann, irgendwo bei jemanden auch hier. Nachdenklich gehe ich langsam zurück, komme auf die Küstenstraße und sehe wieder diesen Mann aus einem Elendsviertel. Die gleiche Kleidung trägt er, wahrscheinlich hat er keine andere. Er schaut mich kurz an und geht an mir vorbei in Richtung Madonna. Jemand, der dort beten will? |
15.04.2010, 05:02 | #8 |
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In den Kapiteln 11 und 12 treffe ich mich mit meinem Freund Edgardo, er ist Arzt, z.Zt. Leiter eines Krankenhauses. Ich erzähle ihm von Claudia, er meint meine Nachforschungen könnten gefährlich werden. Er will aber einen Termin bei dem Pathologen vereinbaren, der Claudia obduziert hat.
13 Der sitzt da noch immer so am Eingang des Elendsviertels. Seine roten, breiten Hosenträger sind etwas verblichen. Er ist 25 Jahre älter geworden. Die Hosenträger waren schon damals sein ganzer Stolz , einem amerikanischen Touristen hatten sie sie weggenommen, der in dieses Viertel gegangen war, um Fotos zu machen. Er hatte nicht nur seine Hosenträger dabei verloren, sondern auch seinen Fotoapparat, seine Lederjacke, seinen Hut, seine Sonnenbrille und auch seine Geldbörse hatte er abgeben müssen. Ich hatte gehört, dass er sich danach auf einer Polizeistation bitter über die Zustände hier in Chile beklagt hatte. Er könne froh sein, dass ihm nur die paar Sachen abhanden gekommen seien, hatte ihm ein Polizist gesagt. In den USA gäbe es schließlich auch Stadtviertel, in die man besser nicht hineingehe. Dieses Viertel „Aguita de la Perdiz“ betrete nicht einmal die Polizei. Hier wohnten fast nur Kriminelle, als Leute, die weder befehlen noch gehorchen könnten, hatte sie Präsident Pinochet bezeichnet. Dieses Viertel würde bald verschwinden, man wolle Hochhäuser dahin bauen. José heißt er, war damals 12 Jahre alt , geistig behindert, er isst überall mit, wo er gerade ist und schläft auch dort. Alle fremden Neuankömmlinge begrüßt er teils freundlich, teils aggressiv, je nachdem wie er gerade drauf ist. Er schaut mich an, sein Gesicht verzerrt sich vor Freude und schreit: „Don Pedro ist wieder da, der Fußballer!“ Springt dann um mich herum und umarmt mich. Ich bin erstaunt, dass er mich erkannt hat. Solchen Empfang hätte ich nie erwartet. Dann kommt mir Jaime entgegen, 1,90 m groß, dürr, mit einer riesigen Hakennase im Gesicht. Er war damals 20 Jahre alt. Er umarmt mich, drückt mich an sich und klopft mir auf die Schultern. Er war damals die Stütze der Abwehr, hatte bei seiner Körpergröße jeden Ball erreicht. „Don Pedro, wie ist es Ihnen in dieser langen Zeit ergangen, gesund sehen sie aus, etwas dicker, heute hätten sie Schwierigkeiten beim Fußballspiel.“ „Ja, älter ist man geworden, die Zeit ist schnell vergangen, ich bin jetzt pensioniert und wollte mal sehen, wen ich noch hier kenne und wer mich noch hier kennt.“ „Sie werden staunen, wer sich noch alles an sie erinnert, oft sprechen wir von diesem wunderbaren Fußballspiel, das wir durch Sie gewonnen haben. Zum ersten Mal konnten wir gegen die Eisenbahner gewinnen, auch zum letzten Mal. Die haben damals immer gesagt, dass es keine Kunst sei, mit einem Deutschen in der Mannschaft zu gewinnen. Die Deutschen könnten eben alle hervorragend Fußball spielen.“ Inzwischen sind noch mehr Leute angekommen, drängen sich um uns herum, schütteln mir die Hand. Ich kann mich nicht an ihre Gesichter erinnern. Ich werde weiter durch die Straße geschoben, die einstöckigen Holzhäuser stehen noch immer so wie damals, eins an das andere gelehnt, sich gegenseitig abstützend, angemalt mit Farben, die gerade billig waren. Wir kommen dann zum Laden von Don Rubén, damals war es ein kleiner Laden, in dem man Grundnahrungsmittel und alkoholische Getränke kaufen konnte. Heute ist es ein kleines Restaurant. Auch Don Rubén erkennt mich sofort, umarmt mich, lädt mich ein. Wir sollten uns alle hier hinsetzen und einmal wieder über alte Zeiten reden, sagt er. Älter ist er geworden, trägt immer noch seine Schirmmütze nach hinten geschoben. Sein Gesicht ist bronzefarben, sein Haar hat sich gelichtet, an den Schläfen pochen Adern, bis auf den Bauchansatz ist er hager geblieben. Er bringt auch gleich eine große Karaffe Rotwein an den Tisch, Gläser werden gefüllt, wir trinken einander zu. „Ja, das waren noch Zeiten damals, es ging uns zwar dreckiger als heute, aber da war Einigkeit und Kameradschaft. Viele von damals wohnen jetzt nicht mehr hier, etliche sind gestorben“, sagt er. Ich muss von Deutschland erzählen, was ich da gemacht habe, über die Familie, aber immer wieder kommt dann das Gespräch auf das Fußballspiel. „ Weißt du noch, wie ich dir einen Pass zugespielt habe, und du aus vollem Lauf den Ball in die linke obere Ecke des Tores geknallt hast? Das war ein Bombenschuss, gekonnt, nicht nur Glück, wie du immer gesagt hast“, sagt Jaime. Ich hatte immer versucht, den Leute zu erklären, dass ich nicht besonders Fußball spiele, hatte zwar mal einige Spiele in der untersten Liga in Deutschland mitgemacht, kann mich aber nicht erinnern, dass unsere Mannschaft jemals ein Spiel gewonnen hätte. Mit allen Mitteln hatte ich mich gewehrt, an dem Spiel teilzunehmen, wollte mich nicht lächerlich machen. Manuel, ein Sozialarbeiter, hatte mir gesagt, ich solle mitmachen, allein die Tatsache, einen Deutschen in der Mannschaft zu haben, würde alle zu Höchstleistungen anspornen und den Gegner total verunsichern. Ein Chilene fürchte nichts mehr, als sich lächerlich zu machen. Die Gegner würden annehmen, dass ich als Deutscher ein hervorragender Fußballspieler sei, würden mich nicht direkt angehen, aus Angst sich lächerlich zu machen, erklärte er mir. Nach reichlich genossenem Alkohol hatte ich mich dann bereit erklärt, mitzumachen. „Und das zweite Tor erst, eine Flanke mit dem Kopf angenommen und in die Ecke geköpft“, rief Don Rubén. Und das war auch kein Zufall, wie du immer gesagt hast!“ „Und dann das Fest am Strand, mit viel Wein und dem Hammel, den wir gewonnen hatten“, sagt Don Martín, der gerade dazu gekommen ist. Don Martín war damals die Person im Viertel gewesen, die alles geordnet hatte, so eine Art Friedensrichter oder Mafiaboss. Er hat immer einen Anzug an, trägt ein weißes Hemd mit Krawatte. Er erinnerte mich an den Paten. Mit ihm hatten wir, chilenische Rechtsanwälte, Sozialarbeiter und ich, auch verhindert, dass das Viertel in Bauland für Anleger umgewandelt wurde. Das wichtigste Ergebnis eigentlich für die Menschen hier, sie sahen aber das Fußballspiel als viel wichtiger an. „ Erinnert ihr euch noch, dass dann Don Pedro, wir hatten schon viel getrunken, sagte, dass er schon Rodeos gewonnen habe, und wir ihm natürlich das Pferd bei der Rückkehr vom Strand überlassen haben“, ruft El Pato dazwischen, und ein riesiges Gelächter bricht aus, den Leuten laufen die Tränen über das Gesicht. „Und dann“, El Pato kann kaum weitersprechen, „dann blieb das Pferd mit Don Pedro in einer großen Wasserlache stehen, und wir mussten ihn da herausholen.“ Und andere erzählen von damals, von Ereignissen, an die ich mich nicht erinnern kann. Die Geschichten werden immer wieder erzählt, ändern sich dabei, die vergangene Zeit lässt sich nicht wiederholen. Das Gleiche passiert wohl mit Geschriebenem, es wird immer wieder neu gelesen, neu interpretiert, verändert sich dabei, aber keiner schreibt die Geschichte neu. Es wird langsam Zeit, dass ich hier wegkomme, für einen Moment habe ich Claudia vergessen, habe fast geglaubt, dass ich ein Fußballass war, bin gerührt über die Aufnahme hier. Ich gehe Don Rubén hinterher, als er wieder Wein holen will, sage ihm, dass ich seine Hilfe in einer besonderen Angelegenheit brauche. Wenn möglich würde ich mich gerne mit ihm und El Pato übermorgen, am Samstag, in Concepción im Stadtpark treffen, gegen 12.00 Uhr. Wir könnten zusammen bei der Feuerwehr zu Mittag essen. Er wird mit El Pato reden. |
16.04.2010, 04:54 | #9 |
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14
Viele Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge. Campanas Hochzeitsfest hat begonnen. Die Schwester seiner Frau arbeitet bei der Gemeindeverwaltung in Tomé, deshalb kann er seine Feier in der Schule in Coliumo machen. Ein kleines, einstöckiges Gebäude im Grünen. Ein Klassenzimmer ist mit vielen Blumen geschmückt, alle sitzen auf Stühlen vor langen Tischen. Die Standesbeamtin erledigt die Trauung, professionell und unpersönlich. Alle sind gerührt. Campanas Frau musste auf diesen Tag zwanzig Jahre lang warten, hat sie mir erzählt. Sie ist jetzt glücklich. Nach der Trauung wünschen alle Glück und überreichen teilweise Geschenke. Ich habe Campana ein Schaf zum Grillen geschenkt, seiner Frau ein Armband und Ohrringe, die sie sich selber wohl nie gekauft hätte. Sie freut sich riesig, zeigt ihren Schmuck überall herum. Niemand würde denken, dass sie eine Frau aus dem Viertel hier ist, etwa vierzig Jahre alt, schlank und hübsch, die dunklen Haare hoch gesteckt, unauffällig geschminkt, ein helles modernes Sommerkleid hat sie an. Sie geht überall herum, nimmt Glückwünsche entgegen und strahlt. Campana ist immer an ihrer Seite, scheint sich etwas unbequem in seinem neuen Anzug und dem gestärkten weißen Hemd mit Krawatte zu fühlen. Laufend wird Sekt angeboten, eine Unmenge Happen, mit Muscheln und Fisch belegt, gibt es. Ich gehe in den Hof. Campanas Bruder steht sofort neben mir und reicht mir ein Glas Rotwein, das wievielte ist das heute? Ich setze mich in den Schatten eines Baumes, etwas abseits, hier ist es ruhiger. Plötzlich kommt jemand von hinten, hält mir die Augen zu und gibt mir einen Kuss auf den Hals. Ich drehe mich um und sehe Viviana. Viviana, eine Freundin von mir, als ich vor vielen Jahren allein in Chile war. Sie studierte damals Kunst und kam immer abends zu mir. Eines Tages fragte sie mich dann, wann wir endlich heiraten würden. Ich fiel fast aus den Socken, erklärte ihr, dass ich noch nicht einmal geschieden wäre. Sie sprach dann von Schwierigkeiten, die sie mit ihren Eltern habe, wenn sie immer nachts bei mir wäre, auch die Nachbarn schauten schon komisch. Als ich dann fragte, was ihre Eltern den Nachbarn erzählen würden, sagte sie: „ Die sagen, dass ich nachts einen alten, kranken Mann hüten würde!“ Ich lachte und sagte ihr, dass das ja stimme. Es war eine sehr schöne Zeit mit ihr. „ Ich lebe jetzt in Santiago, bin verheiratet und habe drei Kinder. Mein Mann ist Lehrer und fürchterlich eifersüchtig. Am besten wir tun, als wenn wir uns nicht kennen würden!“, sagt sie leise. Sie gibt mir schnell einen Kuss, diesmal auf den Mund und läuft davon. Im Hof werden zwei Schafe gegrillt, Gemüse und Kartoffeln zubereitet. Ich treffe Don Juan. Seine feinsten Kleider hat er angezogen, einen dunklen Anzug und ein passende Jacke dazu, ist etwa siebzig Jahre alt, hat schon öfter für mich gearbeitet. Er trinkt keinen Alkohol mehr, war Alkoholiker. „ Allerhand los hier heute“, sagt Don Juan zu mir, „wie geht’s denn so?“ „ Gut, wie soll es einem hier schlecht gehen, bei dem vielen gutes Essen und Trinken. Wie geht es Ihnen?“ „ Ich hatte in letzter Zeit einige Probleme mit meinem Rücken, aber jetzt geht’s wieder besser. Das ist halt das Alter!“ Campana kommt, die Krawatte ist verschwunden. Er fragt mich, ob ich auch alles hätte, was ich brauche, genug zu essen und zu trinken. „Viel zu viel“, sage ich, Ihnen zu Ehren habe ich einen Anzug angezogen, bekomme die Hose kaum zu.“ Er lacht. Dann kommt das Essen, Hammel vom Grill, Salate, Kartoffeln, Gemüse und sehr viel Rotwein. Ich rede mit meinen Tischnachbarn, sie sind fast alle von hier, aus diesem Viertel, kennen mich inzwischen oder wissen mindestens, dass ich der Deutsche bin, der da oben auf dem Hügel ein Haus hat und jedes Jahr für einige Monate kommt. „ Ja, in so einem kleinen Kaff weiß jeder fast alles von jedem“, sagt jemand am Tisch zu mir. „Hier ändert sich nichts und passiert nichts, das Leben wird nicht besser, aber auch nicht schlechter. Der Fischfang ist allerdings schlechter geworden“, fügt er dann hinzu. Er ist Fischer wie so viele hier. Ich frage ihn, ob hier viel gestohlen wird. „Nur kleinere Dinge, auch mal eine Wasserpumpe wird mitgenommen, aber sonst passiert wenig hier. Fast immer sind es irgendwelche Jugendliche, die zu viel getrunken haben.“ Wir gießen uns gegenseitig Wein ein, er hat schon einiges mehr getrunken als ich, sagt, dass er wohl mal besser an die frische Luft gehen sollte. Ich begleite ihn. „Sagen sie mal, ist es in Deutschland jetzt wirklich so kalt?“ fragt er mich. „ Im Winter, haben wir schon tiefe Temperaturen im Vergleich zu hier, öfter unter null Grad. Aber alles wird beheizt, die Häuser und die Busse auch.“ Einer, der zu viel getrunken hat, wird gerade von zwei jungen Männern nach Hause gebracht. Das passiert hier ohne jeden Skandal. Die Leute kennen sich alle, auch die ganz alten Menschen sind dabei, der Urgroßvater gehört dazu, wird mitgenommen und wieder nach Hause gebracht. „ Der Victor hat mal zu wieder zu viel getrunken, ist das nicht gewöhnt, lebt meistens bei seiner Mutter in Santiago“, sagt jemand nehmen mir. Ich schaue den Victor an, er hat eine bayrische Trachtenjacke an, an der ein Knopf fehlt. „ Victor?“, frage ich. „Ja, das ist der Victor Perez, der gerade bei seinem Vater zu Besuch ist.“ Alle setzen sich wieder an die Tische, es gibt Eis und Pisco-Schnaps dazu in großen Mengen. Die Stimmung wird immer ausgelassener. Ich sitze jetzt neben Don Juan. „ Bei uns in Deutschland gibt es ein Haufen Probleme mit Jugendlichen, die zu viel Alkohol trinken. Wie ist das hier?“ frage ich ihn. „ Probleme? Nein, eigentlich gibt es kaum Probleme mit den Jungen, mal ein paar Streiche, aber nicht mehr!“ „ Und Claudia Palma?“, frage ich ihn. Er schluckt, sagt zunächst nichts und beginnt dann etwas zögernd: „ Das war etwas anderes, so was war bei uns noch nie vorher passiert.“ Er schüttelt den Kopf. „Darüber spricht auch keiner gerne hier. Die Claudia war schon immer ein besonderer Fall. Sah so toll aus, machte alle dadurch an und hatte nie einen Freund hier. Sie glaubte wohl, sie wäre etwas Besonderes und wartete auf einen Prinzen. Die hier waren ihr wohl nicht gut genug. Im vergangenen Februar ist sie dann vergewaltigt worden, wohl von zwei Männern, der eine soll von auswärts gewesen sein. Dass sie sich danach gleich das Leben genommen hat, versteht auch niemand hier!“ Ich stehe auf, es ist Zeit für mich zu gehen. Die Leute haben angefangen zu tanzen, ich dränge mich hindurch, Campana kommt. „Warum gehen denn Sie so früh?“ fragt er mich, „ hat es Ihnen nicht gefallen?“ „ Doch, doch, alles war prima, vielen Dank noch einmal für die Einladung. Ich muss noch etwas arbeiten. Sie wissen doch, dass ich ein Buch schreibe.“ Er begleitet mich zur Tür, und ich sehe jemanden gerade verschwinden, den ich kenne: El Pato. Ich frage Campana, wer das sei. Er sagt: „ Das ist jemand, der hier nicht wohnt und auch nicht hier hingehört, jemand von auswärts, kein guter Mensch! Er hat einen Onkel hier, dem er ab und zu beim Fischfang hilft.“ Ich gehe langsam aus dem Hof und sehe wieder den Mann aus dem Elendsviertel. Ich spüre, wie er mir nachschaut. |
17.04.2010, 05:53 | #10 |
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Rubén und El Pato warten schon vor dem Restaurant. Wie El Pato in Wirklichkeit heißt, weiß ich nicht, er geht wie eine Ente, darum nennen sie ihn Pato. Mittelgroß, besteht nur aus Muskeln. In der Zeit, als ich die beiden kennen lernte, fragte man nicht viel, nicht nach Namen, nicht nach Adressen. In der Zeit der Diktatur war es besser so wenig wie möglich von einander zu wissen. Wir gehen ins Restaurant, einfache Holztische, ein paar Bilder aus Bayern an der Wand. Früher existierte eine Organisation, die sich Deutsche Feuerwehr nannte, das war ihr Club-Lokal. Die Preise sind niedrig, einfaches deutsches Essen. Wir bestellen Schweinebraten, Kartoffelbrei und Sauerkraut und trinken Bier dazu. „Na, wie geht’s denn so“, frage ich. Rubén sagt: „Weißt du, wenn man am Rand eines Scheißhauses geboren wurde, dann muss man sich damit abfinden, ab und zu in Scheiße hineinzutreten!“ El Pato nickt: „Manches ist besser geworden, wir haben Arbeit, wenn sie auch beschissen bezahlt wird. Ab und zu müssen wir etwas tun, um unsere finanzielle Situation zu verbessern. Wir schaffen dann einen gerechten Ausgleich. Da hat sich grundlegend nichts geändert gegen früher. Aber wir leben immerhin noch, müssen nicht ständig Angst haben, festgenommen und gefoltert zu werden.“ Das Essen kommt, wir bestellen noch mehr Bier. „Sag mal, esst ihr in Deutschland wirklich jeden Tag Sauerkraut?“ fragt Rubén. „Quatsch, ich habe schon ewig kein Sauerkraut mehr gegessen. Das sind Märchen, die man Touristen erzählt.“ „Schmeckt aber nicht schlecht, das Zeug“, sagt El Pato. „ Da schlich doch immer ein Typ in eurem Viertel herum, ich glaube Felipe hieß er, wurde vom Geheimdienst bezahlt und übermittelte alles, was er so aufschnappte. Was ist denn aus dem geworden?“ El Pato verzieht sein Gesicht, als wenn er gleich in Tränen ausbrechen würde: „Ja, das war eine tragische Geschichte. Ich glaube, es war 1986. Da ist ihm doch tatsächlich ein Dachziegel auf den Kopf gefallen, er war gleich tot.“ „Ja, so war das“, sagt Rubén, „die Gott liebt, ruft er eben schnell zu sich.“ Als Nachtisch gibt es einen Pudding. Ich bezahle, wir gehen raus und setzen uns in den Park. „ Ihr wisst, dass ich ein Häuschen in Coliumo habe. Vor einem Jahr habe ich da eine junge Frau kennen gelernt.....“ El Pato fängt an zu grinsen, Rubén nickt beifällig. „Nein, das war nicht so, wie ihr jetzt denkt, das war eine andere Beziehung oder gar keine Beziehung, vielleicht wäre es eine Beziehung geworden. Als ich in diesem Jahr zurück kam, war die Frau tot. Vergewaltigt, und wahrscheinlich ist sie ermordet worden.“ Die beiden schauen mich an, merken mir an, dass es für mich nicht nur eine Gelegenheit war, mich an eine junge Frau heranzumachen. „ Und wer waren die Täter?“ fragt Rubén. „Man hat sie nicht gefunden, die Polizei nimmt an, dass es mehrere waren.“ „ Und wobei sollen wir dir nun helfen? Irgendetwas kann man immer machen. Erinnerst du dich an die Geschichte mit dem Kiosk?“, sagt Rubén. 1983 arbeitete ich in einem Projekt mit, wir wollten behinderten Menschen helfen zu überleben. Einer sollte einen Kiosk erhalten und dort Zeitungen, Süßigkeiten und Zigaretten verkaufen. Ich fand auch einen Mann, der einen Kiosk billig anfertigen wollte. Der forderte dann immer mehr Geld, der Kiosk wurde nicht fertig. Ich besprach dann meine Schwierigkeiten mit Rubén und El Pato. „Das war gar nicht so schwer“, sagt Rubén, „wir haben mit dem Mann nur einmal vernünftig geredet!“ „Ja,“ sagt el Pato„ „der Mann hat dann seinen Fehler eingesehen, als wir ihn daraufhin gewiesen haben, dass er als Familienvater besser auf seine Gesundheit achten müsste, ich glaube er hat dir sogar Geld zurück gezahlt, weil er sich verrechnet hatte. Der Kiosk war dann auch nach zwei Tagen fertig.“ „Ihr habt mir damals sehr geholfen.“ „Das war doch wohl klar, dass wir dir helfen mussten bei allem, was du für uns getan hast“, sagt Rubén. „Dieses Mal ist es etwas schwieriger. Ich glaube, ich kenne einen der Täter, der Claudia Palma vergewaltigt hat, einen Jugendlichen, etwa 20 Jahre alt, Victor Perez, heißt er. Sein Vater, Marcelo Perez, ist einer der reichsten Leute in diesem Viertel, hat mehrere Boote und vermietet sie an Fischer. Ich weiß aber nicht, wie ich die Namen der anderen herausfinden kann.“ „ Da ist schon zu viel Zeit vergangen“, sagt El Pato, „da kann man wahrscheinlich nichts machen!“ „Das scheint mir nicht so schwierig zu sein“, sagt Rubén, wir werden den jungen Mann einfach mal fragen! Du hast doch da irgendeinen Onkel, Pato, der Fischer ist. Dem hast du doch letztes Jahr auch geholfen. Wir schauen mal, was da zu machen ist, rufen dich dann auf deinem Handy an, wenn wir mehr wissen.“ „Im Februar war ich nicht in Coliumo, ich war in Viña, ein Onkel hat da eine Eisenwarenhandlung, Fernando Gomez heißt er. Was willst du dann mit den Männern machen, wenn du sie gefunden hast?“ fragt El Pato. „Weiß noch nicht genau, vielleicht der Polizei übergeben oder was ganz anderes.“ |
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