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Alt 04.02.2014, 18:29   #1
Fenek
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 15.04.2010
Beiträge: 294
Standard Karin

Karin

Der kühle Ostwind hatte bereits Ende Oktober riesige Schneemassen in unser Tal transportiert, viel zu früh, und schon tauten sie wieder ab. Im Stadtwald war ein Geräusch, als wenn tausende Wasserhähne tropften. Vereinzelt lagen Schneeplacken herum wie eine versprengte Schafherde. Und mit der aufkommenden Dämmerung schlichen graue Dunstschwaden umher.

Etwas Luftbewegung kam auf und vertrieb den Nebel. An den Ästen der Bäume klammerten sich noch einige Blätter mit den Resten ihrer versiegenden Lebenskraft; in den Wipfeln säuselte ein leichter Wind, und für einen Moment war mir, als hörte ich eine weibliche Stimme meinen Namen rufen: „Enno, Enno – gogo!“ Wanderer hatten immer wieder von einer umhergeisternden Karin berichtet.

Hinter einem verwaisten Hausbrunnen schlenderte ich über eine Wiese, die abschüssig an einem Bachlauf endete. Inzwischen verzauberte der Halbmond mit seinem gedimmten Licht die Landschaft. Bauchhoch versank die Flur in silbernen Nebelschleiern. Wie durch ein Getreidefeld watete ich darin herum, blickte staunend über die dunstende Fläche weit hinauf in einen gigantischen Himmel. Die Sterne schienen der Erde ganz nahe; so tauchte ich ein in die Unbegreiflichkeit dieses endlosen Raumes.

In der Feuchtwiese am Waldrand war es still. Zarte Nebelgespinnste krochen den Boden entlang, und etwas später hinter einer Anhöhe tauchten in der Ferne verschwommen die Lichter von einem Bauernhof auf. Ruhig und verschlafen lag er da, wohlig an den Süllberg hingeschmiegt.

Auf der einzigen Bank dort saß eine engelsgleiche Gestalt; dass also war Karin. Nach einer Weile stakste sie davon, zog das rechte Bein etwas nach. Über einen verwilderten Pfad quälte sie sich hinauf ins Gebirge.

Mein Atem ging schwer und Greif, mein Hund, ein Kromfohrländer, stellte urplötzlich einem Hasen nach, hetzte einen Moment hinter ihm her, vorbei an einer jämmerlichen Esche, ließ aber genauso schnell wieder ab von seiner Jagd. Aus Greifs hechelnder Schnauze stoben wie aus einer Dampfpfeife winzige Wolken hervor. Durchs dichte Unterholz von der Anhöhe her brannten sich Karins Augen wie zwei glühende Kohlen in die Nacht, und über uns plötzlich die klagenden Schreie verspäteter Wildgänse, die rasch am Halbmond vorbeiflogen, unwirklich, aneinandergebundene Papierdrachen, die magisch davongezogen wurden.

Dann verlor sich ihr Anblick, während Greif unruhig knurrte und fiepste, mich kurz fragend anschaute. Mit meinem Nachtglas erspähte ich einen Sprung Rehe auf der gegenüberliegenden Seite des Baches, auf einem dieser liederlich abgeernteten Stoppelrübenfelder. Ab und zu schnellte eins ihrer Häupter mit langem Hals und gespitzten Lauschern empor, verharrte eine Weile wie versteinert und tunkte ruckartig wieder in die Nebelschicht hinein. Mein Hund beruhigte sich wieder. Ich aber war sehr nervös, denn es ging die Legende, dass keiner Karins bösem Blick widerstehen könne.

Greif drängte nach Hause, ich folgte müden Schrittes. Unser einsames Gehöft am Rande des Tales erschien vom weitem wie ein riesiger Scherenschnitt. Eine Schleiereule schwebte dicht über uns hinweg, wir schreckten auf, denn ihr leichter Luftzug und ihr Schatten überraschten uns wie ein Schlag aus dem Nichts; sie glitt weiter um den Giebel des Hauses und es hörte sich an, als würde sie meinen Namen rufen: „Enno, Enno – gogo!“

Fröstelnd öffnete ich die Eichentür zu meiner Diele; eine heimelige Wärme strömte uns entgegen.

Am Kamin saß Karin, der schmale Körper verschluckt von einem zu groß geratenen, alten Mantel, aus dem dies bleiche zierliche Gesicht hervor lugte, von seidigen blonden Haaren umfangen. Ich verspürte einen unfehlbaren Instinkt in mir, und wusste sofort, es wäre sinnlos sich zu wehren oder davonzulaufen.

Mit einem Kartoffelschäler trennte sie mir ein Auge raus, zerhackte blind vor Wut meine Beine, sowie man es vor Jahren mit ihrer Tochter getan hatte, nachdem sie vergewaltigt worden war. Man konnte nie den Täter ermitteln. Karin hatte damals mit ihrem Leben Schluß gemacht.

Von Draußen der Ruf eines Kauzes und hier in der Stube Greifs Winseln. Nun beende ich meine Aufzeichnung, lege den Stift beiseite und mich zum Sterben, wie alle Wanderer, die Karin früher oder später begegnen und von ihr hingemetzelt würden oder doch nur Opfer einer grundlosen Angst sind, wie das Rotkäppchen, das in Wirklichkeit nicht vom Wolf (die mögen keine Menschen) verschlungen worden war, sondern von ihrer Furcht vor jenem.
__________________
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Fenek)
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Alt 04.02.2014, 18:39   #2
Chavali
ADäquat
 
Benutzerbild von Chavali
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Mitteldeutschland
Beiträge: 13.004
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Hallo Fenek,

das ist ja spannend!
Nur zu gern wüsste man, wie die Geschichte weitergeht, wie sie weitergehen könnte.

Jetzt muss ich den grausamen Anblick der mit einem Schäler ausgehackten Augen erst einmal verkraften.
Der blanke Horror!
Und doch scheint mir hier das schlechte Gewissen zu sprechen:
Ist der Protagonist am Ende selbst der Unhold, der sich an ihrer Tochter verging...?


Sehr gern gelesen!

LG Chavali
__________________
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© auf alle meine Texte
Die Zeit heilt keine Wunden, man gewöhnt sich nur an den Schmerz

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