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Denkerklause Philosophisches und Nachdenkliches

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Alt 12.07.2012, 19:21   #1
Thomas
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Standard Hörst du?

Hörst du?

Hörst du die Stimme? Hörst du? Sie spricht,
sie spricht jetzt laut, jetzt wieder nicht.
Seit Jahren lässt sie keine Ruh,
sagt immer das Gleiche, immerzu.
Es gibt kein Entkommen, du kannst nicht entfliehen,
in Wüsten würde sie mit dir ziehen.
Mitunter schweigt sie. Doch ist sie da.
Sie droht zu sprechen, sie spricht beinah!

Erst hab ich gedacht, das geht vorbei,
dann bat ich sie nur, dass sie ruhig sei.
Ich hab mich im Großstadtlärm versteckt.
Sie hat mich in Bars und Discos entdeckt.
Ich habe Sohlen mit Nägeln getragen,
geschrien, gebrüllt und Schlagzeug geschlagen,
ich hab mich betrunken – die Stimme blieb da,
sogar im Kriegslärm war sie mir nah.

Hörst du die Stimme? Hörst du sie jetzt?
Ich bin nicht verrückt, bin nur gehetzt.
Sie könnte doch wenigstens etwas befehlen,
anstatt mich mit dieser Frage zu quälen,
der Frage nach mir und nach dem Sinn.
Sie fragt, sie fragt nur, wer ich bin.
Ich will es nicht hören. Ich kann es nicht!
Du hörst doch auch, wie sie spricht und spricht?

Geändert von Thomas (13.07.2012 um 14:43 Uhr)
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Alt 12.07.2012, 19:50   #2
a.c.larin
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Oh, das ist ja was echt Nagendes!

Da kann man dem Lyrich nur wünschen, dass es sich "nur" der Beantwortung der Sinnfrage zu stellen braucht und dann wieder Ruhe haben darf - denn wenn die Stimme auch dann noch weiterquasselt, wirds Zeit, zum Arzt zu gehen!

Zwar weiß man seit Goethe, dass der Mensch "zwei Seelen" in der Brust hat - und das Lyrich dürfte in dem Falle schon damit bestückt sein, weil es mit sich selbst bereits gekonnt in der Du-Form redet - aber mit zusätzlichen Stimmen im Kopf dürfte die Sache dann doch etwas haarig werden!
Das Gehetzt-Gejagte kommt da sehr gut rüber.

Discos würd ich so schreiben!

Fein gemacht!
lg, larin
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Cogito dichto sum - ich dichte, also bin ich!
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Alt 12.07.2012, 20:08   #3
fee
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das ist ausgesprochen treffend, lieber thomas!

diese stimme, der man nicht entfliehen, die man nicht stummkriegen und nicht übertönen kann auf dauer.... sehr eindringlich verwortet. und dein gedicht erzeugt tatsächlich in mir dasselbe bedrängungsgefühl wie diese frage, wenn sie wieder ihre stimme erhebt und gehört werden will.

sehr sehr gerne gelesen!

lg,

fee
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Alt 13.07.2012, 09:36   #4
Erich Kykal
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Hi, Thomas!

In diesem Fall muss ich leider mal sagen: Insgesamt gefällt mir dies weniger.

Es erscheint mir wie eine Mischung aus lyrisch anmutender Satzstellung und z.T. simpel gestrickter Allgemeinsprache. (zB S2 - "erst hab ich gedacht" usw.)

S1Z3 - Metrisch zu kurz - das "mir" fehlt.
S1Z4 - Ein "nur" dazu, und es passt.

In der ersten Str. widersprichst du dir auch inhaltlich:
Erst vermittelst du den Eindruck, die Stimme "spricht und spricht", in der letzten Zeile von S1 aber spricht sie beinah oder droht nur zu sprechen.
Ja, watt'n nun!??

S2Z2 - Das "ruhig" muss man ganz komisch - mit betontem "i" - aussprechen, damit sich die Zeile im Sprachtakt noch ausgeht.

Ende S2 - Wenn du in der Ichform erzählst (Lyrich oder nicht), erscheint das mit dem Kriegslärm doch etwas dick aufgetragen - zumindest macht es den Eindruck, es eher mit einem Täter als mit einem Opfer zu tun zu haben.

S3Z2 - Metrisch geht sich der 2. Satzteil ungekürzt aus. Warum lässt du das "Ich" hier weg - so klingt es eher flapsig.

Insgesamt ist mir die Sprachmelodie durchgehend zu abgehackt, zu flatterhaft. Inhaltlich ist das Gedicht gut, indes, die Umsetzung erscheint mir zu unausgegoren. Würde ich noch mal bearbeiten.

Beispiel:

Hörst du?

Hörst du die Stimme? Hörst du sie nicht,
wie sie mal laut und mal leise spricht?
Seit Ewigkeit lässt sie mir keine Ruh,
sagt immer das Gleiche nur, immerzu.
Es gibt kein Entkommen und kein Entfliehn,
in die Wüste selbst würde sie mit dir ziehn.
Worte des Blicks, der dein Innerstes schaut,
allezeit raunt sie und ist doch zu laut!

Erst dachte ich bei mir, das ginge vorbei,
dann bat ich sie nur, dass sie leiser sei.
Ich hab mich im Großstadttrubel versteckt.
Sie hat mich in Bars und Discos entdeckt.
Ich habe Sohlen mit Nägeln getragen,
geschrien, gebrüllt und Schlagzeug geschlagen,
ich hab mich betrunken – die Stimme blieb da,
sogar wenn ich träumte, war sie mir nah.

Hörst du die Stimme? Hörst du sie jetzt?
Ich bin nicht verrückt, nur ständig gehetzt.
Sie könnte doch wenigstens etwas befehlen,
anstatt mich beständig mit Fragen zu quälen,
den Fragen nach mir und nach einem Sinn.
Sie fragt, fragt mich ständig nur, wer ich bin.
Ich will es nicht hören. Ich kann es nicht!
Hörst du nicht auch, wie sie spricht und spricht?


Hier habe ich versucht, das Ganze sprachlich etwas zu runden, sodass ein melodischerer Fluss entsteht. Übernimm, was dir brauchbar erscheint.

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.

Geändert von Erich Kykal (16.07.2012 um 13:05 Uhr)
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Alt 13.07.2012, 14:25   #5
Thomas
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Liebe larin,

vielen Dank für das "Rüberkommen" und das Disco-C - laut Duden tatsächlich die gewünschte Schreibweise.

Liebe fee,

dass ich das Bedrängungsgefühl erzeuge, empfinde ich als großes Lob, hoffe aber, dass das beim Leser nur kurzfristig so ist und dann das Gefühl der Erleichterung oder sogar Freude eintritt, weil die Sinnfrage gestellt werden kann.


Lieber Erich,

vielen Dank für deinen ausführlichen und genauen Kommentar. Dass dir dieses Gedicht wenig gefällt, kann ich verstehen. Die Gedichte von dir, soweit ich sie kenne, zeichnen sich durch einen hohe Sprachebenen aus und sind sehr formvollendet und rund, was ich mir dadurch erkläre, dass du jemand bis, der in sich ruht. Ich versuche diese Form für bestimmte Inhalte auch zu verwirklichen, aber für dieses Gedicht würde sie meiner Meinung nach nicht recht passen.

Das vorliegende Gedicht handelt von jemandem, der nicht in Balance ist und gehetzt, weswegen ich vierhebige Zeilen mit unregelmäßiger Füllung und fast immer männliche Reime (pro Strophe taucht jeweils ein weiblicher Reim auf, um an passender Stelle Unruhe zu stiften) gewählt habe. Auch die teilweise niedrige Sprachebene begründet sich (meiner Meinung nach) aus dem Inhalt. Ob ich das überall passend hinbekommen habe, weiß ich nicht. Der Text hat mir jedenfalls sehr viel mehr Arbeit gekostet, als wenn ich schöne Jamben oder Trochäen geschrieben hätte.

Dass ich mich in der ersten Strophe inhaltlich widerspreche, sehe ich nicht. Dass die seit Jahren beunruhigende Stimme laut und leise und manchmal gar nicht spricht, dass sogar ihr zeitweises Verstummen als bedrohlich gesehen wird, zeigt nur die Besessenheit.

In Zeile zwei in Strophe zwei spreche ich ruhig mit dem Ton auf dem u: "dann bat ich sie nur, dass sie ruhig sei."

Wenn du sagst: "Insgesamt ist mir die Sprachmelodie durchgehend zu abgehackt, zu flatterhaft." Dann ist das für mich genau die Bestätigung, dass mir das gelungen ist, was ich wollte.

Der Unterschied zwischen unseren beiden Ansichten liegt wohl darin, dass du diese Unförmigkeit für künstlerisch nicht gerechtfertigt findest, womit du vielleicht sogar Recht hast. Ich kenne jedenfalls einige gute Argumente für deinen Standpunkt, die mich bisher jedoch nicht ganz überzeugen konnten. Ich bin mir aber nicht sicher und experimentiere. Wir sind vermutlich recht unterschiedliche Typen.

Auf alle Fälle sind deine Kommentare sehr wichtig, und ich lese sie gründlich (auch solche, die nicht meine Gedichte betreffen), um davon zu lernen.

Liebe Grüße euch allen
Thomas

Geändert von Thomas (13.07.2012 um 14:42 Uhr)
Thomas ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.07.2012, 16:48   #6
a.c.larin
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lieber thomas,

nun - da du auf erichs kommentar schon selber geantwortet hast, kann ich mich ja noch einmal melden.
also ehrlich: ich finde deine fassung dem thema angemessener und passender, und zwar aus genau den gründen, die du auch siehst.

auf mich wirkt das gedicht dadurch authentischer.
nicht, dass erichs vorschläge nicht gut gewesen wären - aber sie sind eben doch "verkykalt". ( nicht böse sein, erich! )

am liebsten hätte ich dazu geschrieben: man kann/muss /soll/ darf nicht aus jedem gedicht ein sonett machen!
erich ist derzeit im bildergedicht-sonettschreibemodus. das ist gut so - dort passt seine klangvolle sprache absolut dazu.

dein gedicht gehört aber einem anderen genre an.
hier sollen nicht klangbilder geschaffen werden, sondern es muss an der haut kratzen und unter den nägeln brennen!
da muss das allzu klangvolle, liebliche wegbleiben!

insoferne ist "kriegslärm" hundertmal deutlicher als "träumte" .( das klingt in dem zusammenhang echt schwammig für mich.)

gewissenspein hat nichts träumerisches an sich, quälende sinnfragen schon gar nicht.
also ich bin da ganz bei dir!

liebe grüße,
larin
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Alt 14.07.2012, 11:56   #7
Erich Kykal
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Ich bin keineswegs böse - ich rechne immer damit, dass meine Vorschläge keinen Anklang finden, entsprechen sie doch MEINEM Geschmack. Dessen bin ich mir immer bewusst. Also keine Sorge - sollte sich jemand welche gemacht haben...

LG, eKy
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Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
Erich Kykal ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.07.2012, 12:53   #8
Thomas
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Hallo Erich,

ich sehe das auch so und finde deine Kommentare und "Spiegelungen" sehr anregend. Auch wenn ich bisweilen anderer Ansicht bin, helfen sie, das eigene Denken zu überprüfen. Bitte weiter so.

Liebe Grüße
Thomas
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