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Denkerklause Philosophisches und Nachdenkliches

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Alt 14.09.2016, 16:13   #1
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Standard Generationenlied (Doppelsonett)

Wir waren abertausend treue Seelen,
und zogen willig aus, uns zu beweisen.
Die ganze Erde würden wir bereisen,
und lachend miteinander Pferde stehlen!

Wir wollten uns dem Leben anbefehlen,
nicht ahnend um die schleichenden und leisen
Gesetze, die ein Schuldnerherz vereisen
bei jenen, die ihr Sündenmaß verhehlen.

Wir waren abertausend gute Kinder
und alle glaubten wir an unsre Tage,
und dass wir große Helden und Erfinder

und selig würden mit den Abenteuern,
die alle gut ausgingen ohne Frage,
als würde unser Glück sie stets erneuern.

Die Zeit verflog, die Jahre schrieben Leben
beflissen in das Buch der tausend Wunder -
wir wurden alt, und manche wurden runder.
Was blieb von jungem Drange und Bestreben

in uns zurück? Die meisten blieben kleben
an irgendetwas, das sie nicht bezwangen,
und konnten nie darüber weg gelangen,
um sich erneut in Würde zu erheben.

Wir haben uns beschieden, bei gesunder
Ernährung und Bewegung zu vergreisen,
als wäre nie ein andrer Geist gewesen.

Das große Wort, das junge Münder schwangen,
gerann in uns zu blankpolierten Gleisen!
Was noch im Fahrplan steht, will niemand lesen.
__________________
Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
Erich Kykal ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.09.2016, 18:09   #2
Dana
Slawische Seele
 
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Lieber eKy,

Du unermüdlicher Sonettdichter.

Hier gleich als Doppelsonett, was aber für den Zeitraum auch angemessen ist.

Sehr schön - und sicher wird sich jeder Leser selbst hinterfragen.
Die meisten der abertausend Seelen werden sich darin finden. Es sind Einzelne, die sich noch auf Abenteuer einlassen und ihre Träume verwirklichen.
(Ich habe hier irgendwo von meinem fest eingestellten Radiosender geschrieben, wo ich während der Küchenerbeit viel interessantes erfahre. Darunter Gespräche mit Leuten, die die Siebzig längst überschritten haben. Ich bewundere den Elan immer wieder. Es geht nicht ausschließlich um Taten, Reisen - auch die frischen und erfrischenden Gedankengänge sind imponierend.)

Der Schlussvers gefällt mir besonders und ist sehr treffend.


Liebe Grüße
Dana
__________________
Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
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Alt 15.09.2016, 01:08   #3
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi Dana!

Danke für deine Gedanken!

Die meisten machen freilich die Erfahrung, dass das Leben anders spielt als die Träume der Jugend es sich einst vorstellten. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, es ist eben nur anders. Man nutzt sich aber ab am Leben, wird ruhiger, man lernt hinzunehmen. Man akzeptiert die Verluste und versucht die Gewinne zu halten, so lange es geht.
Letztlich spielt es keine Rolle. Wir gehen, wie wir kamen, nur das eine Mal ohne Vergangenheit, das andere Mal ohne Zukunft ...

LG, eKy
__________________
Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
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Alt 15.09.2016, 10:32   #4
Wodziwob
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Hi eKy,

mir gefällt Dein Doppelsonett deshalb so gut, weil da wenigstens noch einer ist, der es merkt und offen ausspricht, ja zugibt. Die Meisten kommen sich ja auch noch toll dabei vor, ihre erstrebenswerten Ideale unter dem abgestorbenen Baum des "vernünftig Werdens" begraben zu haben. Weil sie nicht unmittelbar zu verwirklichen waren, sondern ihnen sogar noch Nachteile beschert haben, sind sie lieber "realistisch" geworden und "endlich erwachsen", sprich zu angepassten und opportunistischen Spießern mutiert und degeneriert. Die schlimmste Lüge ist die Lebenslüge, und davon ist Dein Gedicht bei all seiner "Ernüchterung" sehr weit entfernt.

Sehr gern gelesen
Wozi
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Alt 15.09.2016, 15:33   #5
Erich Kykal
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Hi Wozi!

Danke für diesen Perspektivenwechsel - du beschreibst das Problem quasi von der anderen Seite der Midlifecrisis, welche die Motivierten von den Arrivierten trennt, vereinfacht ausgedrückt!

LG, eKy
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Alt 20.09.2016, 19:05   #6
Kokochanel
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Guten Abend, Erich,

mir gefällt die Sprache neben der Aussage, die ich eher aus Wodziwobs Blickwinkel betrachten würde, sehr gut. Du mischt moderne Sprache mit poetischer.
Das Schlußbild ist sehr stark.

"Das große Wort, das junge Münder schwangen,
gerann in uns zu blankpolierten Gleisen!
Was noch im Fahrplan steht, will niemand lesen."
mit dem Schuss Melancholie, die hängen bleibt.

Respekt vor diesem schönen Werk.
Grüße von Koko
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Alt 20.09.2016, 20:00   #7
Erich Kykal
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Hi Koko!

Danke für die Blumen!

Eigentlich hatte ich gedacht, meine Sprache wäre ganz allgemein "poetisch" - was genau ist dir denn hier "modern" erschienen?
Warum sollten sich die beiden Begriffe übrigens ausschließen? Kann "moderne" Sprache etwa nicht "poetisch" sein?
Was genau bedeuten "modern" und "poetisch" hier und allgemein für dich?

LG, eKy
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Alt 21.09.2016, 18:53   #8
Kokochanel
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Guten Abend, Erich,

naja, vielleicht habe ich mich etwas schräg ausgedrückt.
Ich meinte halt die Diskrepanz der modernen Sprache und der etwas pathetischeren, antiquierteren. Gerade die Mischung gefällt mir und man findet dies ja auch gern in meinen eigenen Sonetten.

Das große Wort, das junge Münder schwangen, pathetisch
gerann auch
gerann in uns zu blankpolierten Gleisen!
Was noch im Fahrplan steht, will niemand lesen."

modern. Vielleicht hätte ich eher sagen sollen, pathetisch/ schnörkellos...
Im Gegensatz zu deinem Sonett Rom, wo es doch recht schwülstig zugeht, gefällt mir dieser Stil besser.
So nur meinte ich es.
Grüße von Koko
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Alt 21.09.2016, 21:42   #9
Erich Kykal
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Hi Koko!

Ich unterscheide nicht nach Kriterien von "schwülstig" oder "nüchtern", das empfindet ohnehin jeder anders.
Mir ist die Schönheit der Sprache wichtig, und dass sie möglichst gefühlsnah transportiert, was ich in die Zeilen legen möchte.
So gesehen würde ich die Zeile "Das große Wort, das junge Münder schwangen," nicht als pathetisch bezeichnen, sondern als melodisch und klangharmonisch in Rhythmus und Betonung.
Mit dem Begriff "Pathos" verbinde ich eher emotionale Überfrachtung, schmalzig übertriebenes Gefühlsgedusel (wie zB überbordender Patriotismus, schmachtende Liebeslyrik) in gestelzter lyrischer Anmutung, schwallend und gedrechselt.

LG, eKy
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Alt 23.09.2016, 19:21   #10
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Servus Erich,

die beiden Sonette gehören auch zusammen als Doppelsonett, gar keine Frage.

Das erste beschreibt die Flausen, die ein junger Mensch noch im Kopf hat, die Träume und Vorstellungen, die alle in Erfüllung gehen werden.
Das zweite Sonett konfrontiert mit der nüchternen Wahrheit, welche die Erfahrung mit sich bringt, denn die meisten Menschen versuchen sich nahtlos im Gefüge der Gesellschaft zu etablieren und ihr Leben nimmt dabei einen ganz anderen Lauf, als sie es sich zu Jugendzeiten noch vorgestellt hatten.

Und am Ende interessiert es auch niemanden mehr, welche Pläne ein schon erfahrenerer Mensch noch für sein Leben hat.

Was ihn aber nicht davon abhalten sollte, diese auch umzusetzen, möchte ich an dieser Stelle noch kurz anmerken.

Der "Logical Song" von Supertramp kommt mir in den Sinn:

"When I was young it seemed that life was so wonderful, a miracle oh it was beautiful magical... ...but then they send me away..."

Interessante Finte deines Reimschemas übrigens im zweiten Sonett. Die erste Zeile des ersten Terzettes reimt sich auf den Paarreim des ersten Quartettes, und die des zweiten Terzettes mit dem Paarraeim des zweiten Quartettes.
Es war mir beim Lesen nämlich zunächst einmal die angeblich fehlenden Reime aufgefallen, bis ich die Waisenkinder entdeckte...


Sehr schön.


Gern gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald


__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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