24.11.2011, 14:59 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Schiller-Talk
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Kann man die effektive Wirkung messen, die ein Dichter hat, bzw. hatte? Das ist sicher sehr schwierig, ganz unmöglich schein es mir nicht. Es gibt z.B. Versuche über Auflagestärken und die Häufigkeit der Ausleihung von Büchern eines Dichters, diese Frage zu beantworten. Aber es fragt sich, werden die Bücher auch wirklich gelesen, und wenn ja, hinterlassen sie eine Wirkung? Ein besserer Maßstab scheint mir, die Anzahl der Parodien zu sein, weil eine Parodie voraussetzt, dass man das parodierte Original nicht nur kennt, sondern eine (auch von den Lesern der Parodie erkennbare) Reibungsfläche finden muss. Ein noch besserer Maßstab scheint mir, wie weit Aussagen aus dem Werk des Dichters zum sprachlichen Allgemeingut werden, es sind die sogenannten Geflügelte Worte. Nach beiden Maßstäben ist Schillers Wirkung sehr hoch einzuschätzen. Es gibt wohl keinen deutschen Dichter, der mehr parodiert wurde, und wir verwenden sehr häufig 'Geflügelte Worte' aus Schillers Werken. Meist wissen wir gar nicht mehr, woher sie kommen Hier eine Auswahl, die sicherlich nicht vollständig ist. 'Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.' (Wilhelm Tell) 'Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.' (Wilhelm Tell) 'Und neues Leben blüht aus den Ruinen.' (Wilhelm Tell) 'Der Starke ist am mächtigsten allein.' (Wilhelm Tell) 'Hart im Raum stoßen sich die Sachen.' (Wallenstein) 'Was man nicht aufgibt, hat man nie verloren.' (Maria Stuart) 'Früh übt sich, was ein Meister werden will' (Wilhelm Tell) 'Ich hab' hier bloß ein Amt und keine Meinung' (Wallenstein) 'Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens' (Die Jungfrau von Orléans) 'Dem Mann kann geholfen werden' (Die Räuber) 'Ewig jung ist nur die Phantasie.' (An die Freunde) 'Dein Glück ist heute gut gelaunt.' (Der Ring des Polykrates) 'Wehe, wenn sie losgelassen.' (Das Lied von der Glocke) 'Wie kommt mir solcher Glanz in meine Hütte?' (Die Jungfrau von Orléans) 'Alles rennet, rettet, flüchtet.' (Das Lied von der Glocke) 'Donner und Doria!' (Die Verschwörung des Fiesko zu Genua) 'Mit des Geschickes Mächten ist kein ewger Bund zu flechten.' (Das Lied von der Glocke) 'Auf den Brettern, die die Welt bedeuten' (An die Freunde) 'Daran erkennt ich meine Pappenheimer.' (Wallenstein) 'Was tun? spricht Zeus.' (Die Teilung der Erde) 'Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten.' (Wilhelm Tell) 'Das eben ist der Fluch der bösen Tat.' (Wallenstein) 'Das schwere Herz wird nicht durch Worte leicht.' (Wilhelm Tell) 'Raum ist in der kleinsten Hütte.' (Der Jüngling am Bache) 'Des Menschen Wille, das ist sein Glück.' (Wallenstein) 'Der Mohr hat seine Schuldigheit getan, der Mohr kann gehen' (Die Verschwörung des Fiesko zu Genua) 'Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!' (Wilhelm Tell) 'Nur der Irrtum ist das Leben.' (Kassandra) 'Früh übt sich, was ein Meister werden will.' (Wilhelm Tell) 'Vor Tische las man's anders.' (Wallenstein) 'Drum prüfe, wer sich ewig bindet.' (Das Lieb von der Glocke) 'Und allzu straff gespannt zerspringt der Bogen.' (Wilhelm Tell) 'Die Sterne lügen nicht.' (Wallenstein) 'Da werden Weiber zu Hyänen.' (Das Lied von der Glocke) 'Ein kluger Mann baut vor.' (Wilhelm Tell) 'Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort.' (Wallenstein) 'Durch diese hohle Gasse muß er kommen.' (Wilhelm Tell) 'Da unten aber ist’s fürchterlich.' (Der Taucher) 'Er zählt die Häupter seiner Lieben' (Das Lied von der Glocke) 'Was Hände bauen, können Hände stürzen.' (Wilhelm Tell) 'Spät kommt ihr, doch ihr kommt.' (Wallenstein) usw. |
26.11.2011, 12:01 | #2 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Lieber Thomas,
da geflügelte Worte, Redewendungen und Sprichworte eine Art "Hobby" von mir sind (wenn ich sie auch nur "im Kopf" sammle), habe ich mir mal ein, zwei Stunden Zeit genommen und mich durch einige von Schillers Gedichten "hindurch gearbeitet". Und es ist tatsächlich erstaunlich, wie oft wir diesen Dichter sozusagen "im Mund haben". Wobei zu berücksichtigen ist, dass der "Volksmund" manches "umgeformt" hat. Ich würde deine Liste gerne noch um ein paar sehr bekannte Aussprüche ergänzen: Hast du etwas, so gib es her und ich zahle, was recht ist, Bist du etwas, o dann tauschen die Seelen wir aus. (Volksmund: Hast du was, bist du was) Das Werte und Würdige Ich hab getan, was ich nicht lassen konnte. (Volksmund: Tu, was du nicht lassen kannst) Friedrich Schiller, Wilhelm Tell Sünden und böse Geister scheuen das Licht. (Volksmund: Lichtscheue Gestalten) Friedrich Schiller, Kabale und Liebe Drum prüfe, wer sich ewig bindet, / Ob sich das Herz zum Herzen findet! (Das hattest du bereits, aber der Volksmund ist interessant: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bessres findet!) Das Lied von Der Glocke Von der Stirne heiß / Rinnen muß der Schweiß ... Das Lied von der Glocke Denn das Auge des Gesetzes wacht. Das Lied von der Glocke Wo rohe Kräfte sinnlos walten, Das Lied von der Glocke Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, (Volksmund: Schlafende Löwen soll man nicht wecken) Das Lied von der Glocke Freude, schöner Götterfunken Ode an die Freude Seid umschlungen, Millionen! / Diesen Kuß der ganzen Welt! (Volksmund: Meist nur der 1. Teil: Seid umschlungen, Millionen! - eher "geldbezogen" gemeint) An die Freude Wie kommt ein solcher Glanz in meine Hütte? (Volksmund: Welch seltener Glanz in meiner (bescheidenen) Hütte) Die Jungfrau von Orelan Wer nichts waget, der darf nichts hoffen. (Volksmund: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt) Wallensteins Lager, Siebenter Auftritt Die Sterne lügen nicht ... Wallensteins Tod, 3. Aufzug, 9. Auftritt Was ist der langen Rede kurzer Sinn? (Volksmund: Lange Rede, kurzer Sinn) Die Piccolomini, 1. Aufzug, 2. Auftritt Es löst der Mensch nicht, was der Himmel bindet. Die Braut von Messina, 2. Aufzug, 5. Auftritt Hier wendet sich der Gast mit Grausen ... Der Ring des Polykrates Raum für alle hat die Erde. Der Alpenjäger - 1804 Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, (Volksmund: Die Bretter, die die Welt bedeuten) An die Freunde Reich' ihm, wenn er sie mag, freundlich die helfende Hand. (Volksmund: Sich eine "helfende Hand reichen") An einen Weltverbesserer Aber schaudernd, mit Entsetzen Wendet sie sich weg und spricht: (Volksmund: Sich mit Schaudern (von etwas) abwenden) Das Eleusische Fest Füget sich der Stein zum Stein. (Volksmund: Stein für Stein fügt es sich zusammen) Das Eleusische Fest Verbirg in deiner grünen Hülle Die Liebenden dem Aug der Welt! (Volksmund: Sich vor dem Auge der Welt verbergen) Das Geheimniß Hier ist für dich und mich genug. Das Glück und die Weisheit Balsam fürs zerrißne Herz. (Volksmund: Balsam für das Herz, Balsam für die Seele) Das Siegesfest Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen. (Volksmund: (Etwas)lastet zentnerschwer auf dem Gewissen/auf der Seele) Das verschleierte Bild zu Sais Ich finde auch die "Veränderungen" sehr interessant, die Schillers tatsächliche Worte manchmal auch völlig "sinnentfremden" - man siehe das berühmte Platon-Zitat. Im "Volksmund" lautet es: "Ich weiß nur, dass ich nichts weiß." Wobei das völlig aus dem Zusammenhang gerissen ist, und im "Ursprung" eine ganz andere Bedeutung hat. Er entstammt der Apologie des Sokrates, und dieser "weltberühmte Spruch" kommt so nie vor. (Wobei mir, o weh, mal ein Bekannter sagte, dieser "Spruch" käme von Diogenes in der Tonne ... (doch, wirklich)) Der Orakelspruch von der Weisheit des Sokrates Vielleicht nun möchte jemand von euch einwenden: Aber, Sokrates, was ist denn also dein Geschäft? Woher sind diese Verleumdungen dir entstanden? Denn gewiss, wenn du nichts Besonderes betriebest vor andern, es würde nicht solcher Ruf und Gerede entstanden sein, wenn du nicht ganz etwas anderes tätest als andere Leute. So sage uns doch, was es ist, damit wir uns nicht aufs Geratewohl unsere eignen Gedanken machen über dich. Dies dünkt mich mit Recht zu sagen, wer es sagt, und ich will versuchen, euch zu zeigen, was dasjenige ist, was mir den Namen und den üblen Ruf gemacht hat. Hört also, und vielleicht wird manchen von euch bedünken, ich scherzte: glaubt indes sicher, dass ich die reine Wahrheit rede. Ich habe nämlich, ihr Athener, durch nichts anderes als durch eine gewisse Weisheit diesen Namen erlangt. Durch was für eine Weisheit aber? Die eben vielleicht die menschliche Weisheit ist. Denn ich mag in der Tat wohl in dieser weise sein; jene aber, deren ich eben erwähnt, sind vielleicht weise in einer Weisheit, die nicht dem Menschen angemessen ist; oder ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn ich verstehe sie nicht, sondern wer das sagt, der lügt es und sagt es mir zur Verleumdung. Und ich bitte euch, ihr Athener, erregt mir kein Getümmel, selbst wenn ich euch etwas vorlaut zu reden dünken sollte. Denn nicht meine Rede ist es, die ich vorbringe; sondern auf einen ganz glaubwürdigen Urheber will ich sie euch zurückführen. Über meine Weisheit nämlich, ob sie wohl eine ist und was für eine, will ich euch zum Zeugen stellen den Gott in Delphoi. Den Chairephon kennt ihr doch. Dieser war mein Freund von Jugend auf, und auch euer, des Volkes, Freund war er und ist bei dieser letzten Flucht mit geflohen und mit euch auch zurückgekehrt. Und ihr wisst doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch, als er einst nach Delphoi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren; nur, wie ich sage, kein Getümmel, ihr Männer. Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, dass jemand weiser wäre. Und hierüber kann euch dieser sein Bruder hier Zeugnis ablegen, da jener bereits verstorben ist. So ergeben sich Veränderungen, und der "Ursprung" bzw. der tatsächliche Sinn gerät in Vergessenheit. (Und sie ihm auch.) Das ist der Lauf der Welt. (Goethe, Faust I, Garten, Mephistopheles) Ich muss sicher nicht erwähnen, wie viele Sprüche, Redewendungen u. Ä. allein aus Goethes Faust stammen. Im Grunde lässt sich sagen: Wir "tragen" dauernd Goethe oder Schiller im Mund. Nur weiß das (leider) kaum jemand mehr. Liebe Grüße Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (26.11.2011 um 12:20 Uhr) Grund: Kleine Korrektur. |
28.11.2011, 16:10 | #3 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Liebe Stimme der Zeit,
was ich da aufgeschrieben habe, war nur ohne tieferes Nachforschen, es war mir einfach nur aufgefallen. Du hast dich mit dem Thema schon ausführlich beschäftigt, und es freut mich, dass ich nicht ganz daneben lag, wie dein Kommentar zeigte. Auch diese Sinnverschiebung durch den Volksmund, bis hin zur bewussten Verdrehung in der Parodie, ist sehr interessant und aufschlussreich für jeden, der sich überlegt, wie es möglich ist, ob und wie Poesie tatsächlich beim Volk, oder neudeutsch Audience, ankommt. Liebe Grüße Thomas P.S.: Das Sokrates-Beispiel ist wirklich überraschend. |
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