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Alt 20.12.2016, 04:46   #1
Angelika
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Standard Trivialroman ohne Titel, Kapitel 2

2. Kapitel

Jahre waren seitdem vergangen. Die Jahreszeiten wechselten sich ab, und Tobias war ein kenntnisreicher Bauer geworden, der Stolz Helga Johannsens. Er kümmerte sich aufopfernd um Feld und Stall, nie gab es ein unfreundliches Wort. Der Bäuerin trat er mit Ehrerbietung entgegen, drückte sie wohl auch von ganzem Herzen und nahm ihr die schwersten Arbeiten ab, und der Bäuerin kam eine Ahnung, dass ein Höherer anderes mit ihm vorgehabt hatte, als auf ihrem Hof ein guter Bauer zu werden.

Abends aber, wenn die Arbeit beendet war, saßen sie alle zusammen unter der Linde: die Schönen des Dorfes und die männlichen Hoferben. Ein Scherzen ging hinüber und herüber, man sang die alten Lieder, drückte sich heimlich die Hände, und die Dorfmädchen drängten sich um Tobias. Die Alten saßen in ihren Stuben oder beim Ochsenwirt und besprachen die nächste Aussaat oder die Ernte im Wechsel der Jahreszeiten, das junge Volk sollte nach ihrem Willen unter sich bleiben.

Tobias, wenn der Abend fortgeschritten war, musste sich zwingen, nicht aufzustehen und fortzugehen, zu seinen geliebten Pferden. Die Scherze, die Reden und das heimliche Händedrücken prallten von ihm ab. Und als dann Elisabeth Helgensen, die Erbin des größten Hofes, ihn fragte, ob er schon mal ein Mädchen geküsst habe, errötete er. Elisabeth, die von allen nur Elisa genannt wurde, lachte ihn aus. Sie war ein großes, schweres Mädchen, ein bisschen tölpelhaft, aber sie wusste mit den Knechten und Mägden auf dem Hof des Vaters umzugehen. Nach dem Vater war sie die Herrin des Hofs, herrisch und anmaßend. Niemand mochte sie.

Einmal, als er wieder bei seinen Pferden war, schlich sie sich in den Stall. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie schlang von hinten die Arme um seinen Hals und drückte ihren brennenden Mund auf seine Wange. Tobias, der nicht wusste, wie ihm geschah, wehrte sie ab, als er erkannte, dass es Elisa war.

„Elisa, du Dummchen, lass das sein“, sagte er. Er schämte sich für Elisa. Niemals sollte eine Frau einen Mann bedrängen, fühlte er. Elisa stand vor ihm wie ein begossener Pudel, über und über errötet.

„Das ist mir noch nie passiert!“, sagte sie wütend. Sie kaute an ihrer Unterlippe. Schnippisch drehte sie sich auf dem Absatz um. „Du Hergelaufener!“

Von diesem Tage an wusste Tobias, dass mit Elisa nicht gut Kirschen essen war. Er ging ihr aus dem Wege, sooft er eine Gelegenheit fand. Elisa, das bekam er bald mit, sprach mit den anderen aus dem Dorf über ihn. Klatsch und Tratsch ging in der Gemeinde um. Tobias bereute, dass er sie so kurz abgefertigt hatte. Dann aber überlegte er: Es war das Beste gewesen, was er hatte tun können.

Helga Johannsen, der er von Elisas Überfall erzählte, nickte nur. „Das habe ich mir gedacht. Die will doch keiner haben! Sie wird den größten Hof des Dorfes erben, aber sie hat eine schlechte Seele. Außen hui, innen pfui. Nimm dich vor ihr in Acht, sie ist bösartig. Nicht umsonst erinnert sich plötzlich das ganze Dorf daran, dass du nicht mein leiblicher Sohn bist. Sie hetzt die Dorfleute auf!“

Aber es gab noch ein Thema im Dorf, über das sich alle den Mund zerrissen: die geheimnisvolle Dame, die vor einigen Tagen aufgetaucht war. Tagsüber saß sie beim Ochsenwirt, wo sie sich einquartiert hatte, aß nur das Teuerste von der Speisekarte, trank eine Tasse Kaffee nach der anderen, und abends belauschte sie die Dorfbewohner, die bei ihrem Feierabendbier saßen.

Einmal aber sprach sie mit Elisa mitten auf der Dorfstraße. Tobias, der gerade vors Tor treten wollte, zuckte zurück. Was hatte die fremde Frau mit Elisa zu tun? Er lauschte, verstand wenig, aber so viel begriff er doch: Die beiden Frauen sprachen über ihn.

Die beiden sprachen so leise, dass ein Fremder sofort begreifen würde: Hier wurden Geheimnisse ausgetauscht. Tobias aber schämte sich seines Tuns: Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand.

Laut pfeifend ging er an den beiden Geheimnistuerinnen vorbei. Er spürte ihre Blicke im Nacken. Die fremde Frau hatte ihm zugelächelt, ein freundliches, scheues Lächeln hatte ihn getroffen. Den ganzen Tag lang dachte er über dieses Lächeln nach.

Abends sprach er mit Helga Johannsen über die Fremde. Die Bäuerin, schon alt und gebrechlich, saß auf der Ofenbank, die abgearbeiteten Hände im Schoß. Sie blickte nicht auf, als sie sagte: „Man soll es nicht sagen. Aber ich hasse sie schon jetzt. Gott wird mir verzeihen.“ Sie lächelte kläglich.

Tobias war diese Rede unverständlich. Warum hasste die Bäuerin die fremde Dame? Was hatten die beiden Frauen miteinander zu schaffen? Er rätselte und rätselte und kam doch zu keiner Antwort.
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