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Finstere Nacht Trauer und Düsteres

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Alt 23.01.2013, 07:12   #1
Thomas
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Standard Atlas

Atlas

Als der Richtspruch einst erging
und Atlas seine Last empfing,
lud er stolz die teure Bürde
auf sich, mit Titanenwürde,
schwor mit Heldenmut im Herzen,
dass er, selbst bei Höllenschmerzen,
selbst bei aller Last der Erde,
niemals mehr bezwungen werde.
"Nie", gelobte er vor Zeugen,
"werde ich den Nacken beugen!"

Mutig durch der Sterne Zeiten,
durch die ewig öden Weiten,
einsam in dem Weltenall,
trug er den belebten Ball.
Freute sich an neuem Leben,
sah der Menschen Lust und Streben
ihm Erleichterungen bringen.
Selbst die Schwerkraft zu bezwingen,
wähnte er in jenen Tagen.
Ach, wie leicht war da das Tragen!

Ach, die Tage sind vorbei! –
Ach, wie fließendschweres Blei
drückt die Bürde nun herab,
neigt die Erde sich zum Grab.
Was den Menschen froh erhebt
ward verloren und verlebt.
Heit're Schönheit, fromme Sitten
sind zu Fratzen roh zerschnitten.
Kalte Herzen dulden Leiden,
die so sinnlos sich verbreiten.

Atlas seufzte zukunftsbange,
fragte sorgenvoll, wie lange
er die rasendschwere Bürde
noch in Armen halten würde.
Weh in Gliedern und im Herzen
rief er bitter aus vor Schmerzen:
"Bruder, diese Menschenbrut,
siehe, sie missbraucht die Glut!
Feuer, dass du einst geschenkt,
mordet kriegerisch und sengt!"

Und er bäumt die Kraft der Sehnen,
bis Stunden sich zu Jahren dehnen,
bis brüllend er vor Qual gesteht,
dass seine Kraft zu Ende geht.
"Nun sei's -- wenn selbst Titanenmut
vor dieser Welt muss weichen,
verwerf' ich sie in Zorn und Wut,
und setze so ein Zeichen!"

Noch in fernster Himmelsferne
zittern schaudernd selbst die Sterne
von des Aufschreis Echohall.
Und die Erde stürzt ins All. –
Blau, mit einem sanften Stöhnen,
fern so ruhig und in schönen
abgemessnen Himmelskreisen,
leichtbedeckt mit silberweißen
Wolken der Vergänglichkeit,
stürzt sie taumelnd aus der Zeit.

Ach, in diesem sanften Schweben
nimmt sie mit sich alles Leben,
tilgt die Zukunft aller Taten,
reißt vom Himmel die Plejaden. –
Atlas schaudert weltversunken,
will den schrecklichschönen Funken
halten, dass er neu erscheint.
Atlas senkt das Haupt – und weint.



P.S.: Der menschenfreundliche Bringer des Feuers Prometheus ist Bruder von Atlas und die Plejaden sind die Kinder des Atlas.
__________________
© Ralf Schauerhammer

Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller
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Alt 23.01.2013, 09:03   #2
marzipania
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Ein wunderbares Gedicht.
Es handelt von großem persönlichem Mut und Stolz und dem Scheitern daran.
Anhand eines Beispiels aus dem Bereich der griechischen Mythologie zeigst du uns auf, wie wenig sich an den Grundformen des menschlichen Charakters geändert hat. Trotz allen technischen Fortschritts.
Es gibt Anpassungswillige, es gibt ein eher unauffälliges Mittelfeld und es gibt Menschen, die nicht aufbegehren können und wollen, und es gibt die kühnere Sorte. Und es gibt Konflikte, an deren Ende oft ein Rundumschlag steht, eine Säuberungsaktion, mit all ihren grässlichen Folgen.
LG, Marcy

Geändert von marzipania (23.01.2013 um 09:06 Uhr)
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Alt 23.01.2013, 12:14   #3
Erich Kykal
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Hi, Thomas!

Fast schon eine Ballade, so von der Länge her...

S5Z2,3,4 - Da hast du dreimal einen unschönen Hebungsprall am Zeilenanfang.
Alternative:

(Und er baümt die Kraft der Sehnen,)
sie wie alle Zeit zu dehnen,
bis er qualverzerrt gesteht,
dass sein Mut zu Ende geht.

So flösse die Satzmelodie rhythmisch einwandfrei.

Sehr gern gelesen!

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
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Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
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Alt 26.01.2013, 12:48   #4
Thomas
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Hallo marzipania,

es stimmt, was du sagst. Aber hier ist es nicht einmal ein Rundumschlag, zu dem man sich ja entscheiden kann. Das tragische ist, dass manchmals gar keine Entscheidung möglich ist und man nur noch erhaben handeln kann, indem man (wie Atlas) das Notwendige in eigener Freiheit tut - und erhaben leidet.

Liebe Grüße
Thomas

Hi Erich,

Danke. Die Stelle ist absichtlich so (siehe auch geänderte die Strphenlänge), was natürlich, wie mir bewusst ist, deinem sehr guten Stil widerspricht. Trotzdem vielen Dank für die Korrektur, denn sehr oft hast du Recht damit.

Liebe Grüße
Thomas
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Alt 26.01.2013, 19:08   #5
Dana
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Hallo Thomas,

ach, wie wunderbar das Werk. Gut, dass du die Absicht an eKy erklärt hast, sonst hätte ich auch noch an der Stelle "gestänkert".

Du hast den "allseitigen" Kreislauf mit seinen Untergängen und Neugeburten aufgezeigt, in schöner lyrischer Form und in schönen Metaphern.
Deine Antwort an Marcy hat mich ebenfalls sehr angesprochen:

Zitat:
Zitat von Thomas
Hallo marzipania,

es stimmt, was du sagst. Aber hier ist es nicht einmal ein Rundumschlag, zu dem man sich ja entscheiden kann. Das tragische ist, dass manchmals gar keine Entscheidung möglich ist und man nur noch erhaben handeln kann, indem man (wie Atlas) das Notwendige in eigener Freiheit tut - und erhaben leidet.
Es stimmt was sie sagt, sehr sogar. Doch mangels Entscheidungskraft oder Entscheidungswillen bleibt alles unausweichlich und sehr dem Chaos im Weltall ähnlich.
Im Notwendigen in Freiheit handeln und sein - eine Art eigenes kleines Universum schaffen - wäre eine Alternative für jene, die noch nicht im Joch kalter Herzen und roher Gewalt stecken.
Dabei ist Leid nicht ausgeschlossen, es wäre dann aber wenigstens ein eigenes und nicht ein aufgebürdetes.
Man schaue sich nur um: Revolution heißt bitteres Leid hinzunehmen ohne jede Garantie, dass es danach besser wird.
Atlas hat es gut gemeint, viel ausgehalten und musste doch weinen.

Liebe Grüße
Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
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Alt 26.01.2013, 19:31   #6
Thomas
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Liebe Dana,

deine Worte haben mich fast zu Tränen gerührt, es ist so herrlich sich in solch einem Punkt so verstanden zu fühlen.

Liebe Grüße
Thomas
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Alt 28.01.2013, 11:33   #7
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Der sehr schönen Diskussion und diesem wundervollen Gedicht ist nichts mehr hinzuzufügen, das nicht schon jemand vor mir viel besser gesagt hätte! Ganz groß! Hab ich DAS gerne gelesen und genossen. Danke!!!

LG,

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Alt 29.01.2013, 19:49   #8
Thomas
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danke, liebe gute fee,

für die netten Worte. Ich habe mir daraufhin die Kommentare nochmals angesehen und bemerkt, dass ich nur sehr ungenügend auf die von Erich aufgeworfene Frage zur fünften Strophe eingegangen bin. Auch Danas Bemerkung deutet in diese Richtung. Deshalb möchte ich noch etwas anfügen.

Ich denke, dass das Metrum in einem Gedicht nicht völlig gleichmäßig sein muss. Tonbeugungen und sogar der Wechsel des Metrums können aus verschiedenen Gründen geboten sein. Ein Grund ist z.B. dass der Ausdruck einer inneren Spannung diesen Wechsel notwendig macht. Das ist, denke ich, an dieser Stelle meines "Atlas" der Fall. Sicher könnte man die Strophe (wie die anderen) auch trochäisch in zehn Zeilen schreiben, dann würde wahrscheinlich der besondere Moment undeutlicher, ein wenig zu harmonisch und gelassen, erscheinen. Ich will nicht behaupten, dass man es so machen muss, wie ich es getan habe, sondern nur erklären und begründen, warum ich es so getan habe.

Ich füge noch ein (meiner Meinung nach) sehr deutliches und lustiges Beispiel an, welches genau diesen Wechsel des Metrums sogar in der Musik zeigt, und zwar in einem Lied, wo das Metrum noch viel stärker fixiert ist, als in der Sprache. Es ist "Ein Stück Musik von Hand gemacht" von Reinhard Mey. In dem Lied spricht sich Mey gegen die weit verbreitete "Steckdosenmusik" aus und lobt das "eigenhändige" Musizieren, welches "meinetwegen auch mal mit 'nem kleinen Fehler" ablaufen könne. Genau an dieser zitierten "Fehler"-Stelle wechselt das Lied für die Länge eines Taktes vom 4/4-Takt in den3/4-Takt. Ist das nicht sehr passen und gut! Wenn das im Lied angeht, warum nicht im Gedicht?

Liebe Grüße
Thomas
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Alt 01.02.2013, 16:40   #9
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Hallo Thomas,

auch ich bin ganz ergriffen von dieser schönen Ballade.

Sie bringt dem Leser nicht nur die griechische Mythologie nahe, sondern sie beinhaltet auch eine berechtigte Portion Gesellschaftskritik, ohne jedoch den Zeigefinger mahnend dabei zu erheben.

Das gefällt mir sehr gut, wohlwissend, daß viele Dinge zwangsläufig einfach geschehen müssen, ohne daß wir wirklich etwas daran ändern können.

Wo wäre die Welt heute, ohne die unzähligen kleinen und großen Atlasse (oder Atlanten?), die ihre Bürde einfach schultern und somit dazu beitragen, daß das ganze Gebilde nicht in sich zusammen fällt?

Und das Schöne ist, sie dürfen dabei durchaus menschlich bleiben und selbst das Schicksal beweinen, wenn ihnen danach ist.
Das sind letztendlich die Stärksten, auf deren Schultern die ganze Last liegt, denn sie sind die Ehrlichen und gestehen sich ihre Schwächen ein, ohne jedoch dabei ihre Pflichten zu versäumen.

Ganz große Lyrik!


Sehr gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt 02.02.2013, 11:25   #10
Thomas
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Hallo Falderwald,

vielen Dank für den verständnisvollen Kommentar, der die wesentlichen Gedanken des Gedichte genau trifft und mich sehr erfreut.

"Atlanten" ist natürlich falsch, es muss korrekt "Atlasinen" heißen, oder waren es nicht doch die Apfelsinen?

Liebe Grüße
Thomas
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