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11.03.2018, 22:53 | #1 |
Gesperrt
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Beiträge: 531
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Vor Gericht
Von wem ich es habe, das sag ich euch nicht,
das Kind in meinem Leib. „Pfui!“ speit ihr aus: „die Hure da!“ Bin doch ein ehrlich Weib. Mit wem ich mich traute, das sag ich euch nicht. Mein Schatz ist lieb und gut, trägt er eine goldene Kett am Hals, trägt er einen strohernen Hut. Soll Spott und Hohn getragen sein, trag’ ich allein den Hohn. Ich kenn ihn wohl, er kennt mich wohl, und Gott weiß auch davon. Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr, Ich bitte, lasst mich in Ruh! Es ist mein Kind, es bleibt mein Kind; ihr gebt mir ja nichts dazu. Goethe schrieb dieses Gedicht als 26-jähriger während seiner Sturm-und-Drang-Zeit. Es war in dem Jahr, in dem er erstmals nach Weimar kam (im November 1775), aber auch noch in Frankfurt eine Anwaltskanzlei führte. |
14.03.2018, 08:36 | #2 |
Gast
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H. Hesse
Gestutzte Eiche, Juli 1919 Wie haben sie dich, Baum, verschnitten Wie stehst du fremd und sonderbar! Wie hast du hundertmal gelitten, Bis nichts in dir als Trotz und Wille war! Ich bin wie du, mit dem verschnittnen, Gequälten Leben brach ich nicht Und tauche täglich aus durchlittnen Roheiten neu die Stirn ins Licht. Was in mir weich und zart gewesen, Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt, Doch unzerstörbar ist mein Wesen, Ich bin zufrieden, bin versöhnt, Geduldig neue Blätter treib ich Aus Ästen hundertmal zerspellt, Und allem Weh zu Trotze bleib ich Verliebt in die verrückte Welt. |
06.04.2018, 22:09 | #3 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Hakodate
Leb wohl denn, Murasaki! Dein Blick ist tränenschwer, nun teilen Bett und Saki wir zwei nicht mehr. Der Kaiser läßt marschieren, die Sonnen leuchten klar: nun gilt es zu verlieren, was lieb uns war. Mach's kurz, das ist am besten - es bleibt des Glücks Beschluß, daß ich im fernen Westen mich schlagen muß. Und jede, die sich frei sah, die freute es wie dich... du kriegst 'nen tapfren Taisa als Tausch für mich. Ihr reizenden Geschöpfe, uns allen Schmuck und Zier, wir schneiden Russenköpfe und Rosen ihr. Drum schaut nicht nach der See aus und nicht den Strand hinab, die Geisha kommt ins Teehaus - der Mann ins Grab. Stuttgart, März 1905. [Die Gedichte sind aus der Zeit des Russisch-Japanischen Krieges, den Kalckreuth sehr interessiert über die damaligen Medien verfolgte und in etlichen lyrischen Stücken habhaft wurde.] Abschied Der Fuji glimmt im ganzen Kreis vom roten Abendstrahle, im Dämmerwinde wogt der Reis im grüngestuften Tale. Des Tages letzte Feuer fliehn, rings hüllen graue Schleier ihn, ein fernes Rauschen hör ich im Röhricht. Da ist im Wehn des kühlen Winds ein Funkeln aufgeglommen. Es sind die Truppen der Provinz, die dort vom Berghang kommen. - Sie ziehen durch den Abendtau, Gamaschen weiß und Röcke blau, zu finstren Heerkolossen geschlossen. In weitem Bogen rollt das Meer um Yamatos Gefilde. Vom Höhenkamme staunt das Heer vor dem gewalt'gen Bilde. Vom abenddunklen Flutenschwall hebt sich der rote Sonnenball, und Feuergluten weht er zum Äther. Die weite Fläche liegt besonnt, und Well und Eiland blinken, bis in den düstren Horizont die Flammen jäh versinken. Und über der verglommnen Pracht hebt sacht sich die Azurne Nacht, und deckt in blauem Bogen die Wogen. Da ringt ein Stahlgeklirr sich los aus der Kolonnen Tiefe, als ob die Seele Yamatos zu seinen Kriegern riefe: Mein Flammengruß ist im Verglühn, die Schwerter fest – und tretet kühn den Weg zu Tod und Grab an für Japan! Stuttgart, 5. April 1905.
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Das Leben ist eines der schwierigsten. |
21.04.2018, 11:53 | #4 |
Gast
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„Misanthropologie" von Erich Kästner:
Schöne Dinge gibt es dutzendfach. Aber keines ist so schön wie diese: eine ausgesprochen grüne Wiese und ein paar Meter veilchenblauer Bach. Und man kneift sich. Doch das ist kein Traum. Mit der edlen Absicht, sich zu läutern, kniet man zwischen Blumen, Gras und Kräutern. Und der Bach schlägt einen Purzelbaum. Also das, denkt man, ist die Natur? Man beschließt, in Anbetracht des Schönen, mit der Welt sich endlich zu versöhnen. Und ist froh, dass man ins Grüne fuhr. Doch man bleibt nicht lange so naiv. Plötzlich tauchen Menschen auf und schreien. Und schon wieder ist die Welt zum Speien. Und das Gras legt sich vor Abscheu schief. Eben war die Landschaft noch so stumm. Und der Wiesenteppich war so samten. Und schon trampeln diese gottverdammten Menschen wie in Sauerkraut herum. Und man kommt, geschult durch das Erlebnis, wieder mal zu folgendem Ergebnis: Diese Menschheit ist nichts weiter als eine Hautkrankheit das Erdenballs. |
21.04.2018, 14:49 | #5 |
ADäquat
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Beiträge: 13.001
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...was für eine geniale Menschenstudie, lieber EV
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21.04.2018, 21:34 | #6 |
Gast
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Hi Chav,
ja - es ist absolut genial! Jede Zeilen hat ihre Berechtigung! Gern, gern. vlg EV |
22.04.2018, 08:18 | #7 |
Gast
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Liebe Chavali,
Beides von Christian Morgenstern »Lachen und Lächeln sind Tor und Pforte, durch die viel Gutes in den Menschen hineinhuschen kann.« »Jede Landschaft hat ihre eigene besondere Seele, wie ein Mensch, dem du gegenüberlebst.« |
16.06.2018, 22:51 | #8 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Einsamer nie −
Einsamer nie als im August: Erfüllungsstunde – im Gelände die roten und die goldenen Brände, doch wo ist deiner Gärten Lust? Die Seen hell, die Himmel weich, die Äcker rein und glänzen leise, doch wo sind Sieg und Siegsbeweise aus dem von dir vertretenen Reich? Wo alles sich durch Glück beweist und tauscht den Blick und tauscht die Ringe im Weingeruch, im Rausch der Dinge −: dienst du dem Gegenglück, dem Geist. Gottfried Benn
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23.06.2018, 23:31 | #9 |
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Charles Baudelaire
Der freudige Tote Schwer soll der Grund und reich an Schnecken sein, Wo meine Gruft zu schaufeln ich begehre, Dass dort zum Schlaf sich streckt mein alterndes Gebein Und im Vergessen ruht gleich wie der Hai im Meere. Ich hasse Testamente, Grab und Stein, Und von der Welt erbettl ich keine Zähre; Nein, lieber lüde ich den Schwarm der Raben ein, Damit er stückweis mein verwesend Aas verzehre. O Würmer! Schwarz Geleit ohn Auge, ohne Ohr! Ein Abgeschiedner kommt, der froh den Tod erkor. Ihr Söhne des Zerfalls, die dem Genusse leben, Durch meine Trümmer kriecht mit reuelosem Mut Und sagt mir: kann es wohl noch eine Folter geben Für den entseelten Leib, der tot bei Toten ruht? (aus dem Französischen von Wolf von Kalckreuth)
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30.06.2018, 23:29 | #10 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Das Bißchen Ruhm
Was ähnelt wohl dem bißchen Ruhme So sehr wie eine Treibhausblume? Soll dir das arme Pflänzchen sprießen, Mußt du es täglich brav begießen. Und Dünger streun. Und Unkraut jäten. Aufs Wetter sehn. Und leise treten. Doch pfeifst du drauf, so wirst du nie Gekrönt von der A-ka-de-mie. Mascha Kaleko
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