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#1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
Registriert seit: 15.03.2011
Ort: Stuttgart
Beiträge: 1.836
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Hallo, Galapapa,
sie hieß Bärbel. Heute ist sie eine Frau, älter als ich und lebt im Heim, da ihre Mutter zu alt geworden ist, um sie noch versorgen zu können. (Das weiß ich, weil ich den Ort meiner Kindheit gelegentlich aufsuche.) Als ich ein Kind war, wusste ich immer nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Ich war irgendwie froh, wenn ich ihr nicht begegnete. Auf den Gedanken, sie zu hänseln oder Ähnliches wäre ich nie gekommen, aber ich war sehr unsicher. Warum? Nun, sie war eben "anders" und ich wollte nichts "falsch machen" oder etwas "Falsches sagen". Die Erwachsenen waren mir da keine Hilfe, denn eine hilfreiche Erklärung bekam ich nicht, an der ich mich hätte orientieren können. Statt dessen gab es viele abfällige Bemerkungen, die ich nicht verstand - Bärbel tat doch niemandem was? Als Kind wurde ich durch das Verhalten der Erwachsenen in meinem Umfeld nur noch mehr verunsichert ... Allerdings brachte mich das nicht dazu, selbst so zu denken, darüber bin ich froh. (Heute mehr denn je.) Ich war ein Kind, dem man hätte erklären können, was eine geistige Behinderung ist und dass man sich eigentlich "normal" verhalten kann, man darf nur nicht zu kompliziert reden. Aber das wusste ich damals nicht. Ich sah die dicken, großen Brillengläser und die "anderen" Gesichtszüge. Tja ... Im Gegensatz zu Walther in deinem Gedicht wurde sie nicht verspottet oder gehänselt, die abfälligen Reden fanden nur "heimlich" statt. Das lag daran, dass ihre Mutter damals eine sehr resolute Persönlichkeit war, die selbst "gestandenen Mannsbildern" einen Heidenrespekt abnötigte. Sie sorgte auch dafür, dass ihre Tochter immer "gepflegt" war. Ich schätze, nur deshalb gab es da nichts "Offenes". Zur Erklärung: Heute ist mein früherer Wohnort Stadtrand, aber in meiner Kindheit war es ein richtiges "Dorf", in jeder Hinsicht. Nun, es gibt auch Positives zu berichten: Bärbel machte eine (behindertengerechte) Ausbildung (damals mit Seltenheitswert!) und, soweit ich weiß, ist sie seither immer berufstätig gewesen. Ihre Mutter zog sie alleine groß - und ohne deren Beherztheit und Kampfeswillen wäre das sicher nicht möglich gewesen. Hut ab vor dieser Frau, die jetzt leider selbst im Pflegeheim ist. Aber das zeigt mir etwas sehr Wichtiges auf: Wenn der familiäre Rückhalt stimmt, dann muss das Schicksal von Walther nicht sein. Das macht mich wirklich traurig, denn - wo war seine Familie, um sich gut um ihn zu kümmern? Das ist eines der Armutszeugnisse der Menschheit, wenn Mütter ihre Kinder nur lieben, wenn sie "gesund und perfekt" sind. Was überhaupt keine Liebe ist ... Edit: Lieber Galapapa, warum, weiß ich nicht, aber irgendwie drang es nicht ganz zu mir durch, offenbar "entschlüpfte" mir beim Schreiben des Kommentars, dass im Gedicht erwähnt wird, er habe keine Mutter mehr und nur zwei Brüder, die offenbar mehr Zuneigung zum Inhalt diverser Flaschen hatten, anstatt sich um ihn zu kümmern. Also: Entschuldige, ich revidiere und entschuldige mich für meine "geistige Abwesenheit". Vielleicht war ich irgendwie in "meiner Geschichte" zu tief drin und "vergaß" es irgendwie? ![]() ![]() Auch mich hat dein Gedicht tief berührt, es hat Erinnerungen geweckt, mich aber auch zornig gemacht. Liebe Grüße ![]() Stimme ![]()
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Geändert von Stimme der Zeit (11.10.2011 um 15:39 Uhr) Grund: Offenbar ist mir ein Teil des Gedichtinhalts "entschlüpft", Ergänzung hinzugefügt. |
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#2 |
Galapapa
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Liebe Dana,
danke für Deinen Kommentar und Dein Lob zu meinem Text "Walther". Ich war seinerzeit zunächst Kind, habe Walther aber gekannt bis zu meinem Schulabschluss als 20-Jähriger. Danach bin ich weggezogen aus dem Dorf. Bewusst oute ich mich hier als lyrisches Ich. Ich finde auch Deine kleine Geschichte, die Du übrigens unbedingt aufschreiben solltest, sehr interessant und habe oft und immer wieder darüber nachgedacht, seit ich sie gelesen habe. Sie zeigt, wie hartnäckig das eigene Gewissen sein kann und wie penetrant es nach "Verarbeitung" bestimmter Dinge verlangt. Und da ist auch ein wichtiger Unterschied zwischen unseren Erlebnissen: Du hattest die Chance, in einem Gespräch mit dem Bruder die Sache aus der Welt zu schaffen. Mit zunehmendem Alter gibt es für mich immer häufiger Momente, in denen scheinbar längst vergangene Dinge ganz plötzlich wieder auftauchen aus dem Unterbewusstsein, Dinge die mich beschäftigen, weil ich glaube, Fehler gemacht zu haben, etwas versäumt zu haben; Fehler, mit denen ich anderen Menschen weh getan zu haben glaube. Damals waren diese Geschehnisse zunächst von geringer Bedeutung für mich, nun aber sieht das anders aus, mit einem Male. Woher mag das kommen? Eine Erklärung wäre, dass diese Dinge wohlbhütet im Unterbewusstsein gespeichert und immer wieder mit dem aktuellen Stand einer reiferen Einschätzung abgeglichen werden, bis die Beurteilung eine gewisse Schwere des Fehlverhaltens erkennt und der Vorgang in Form eines schlechten Gewissens an die Oberfläche kommt und zum Handeln drängt. Das ist für mich eine erstaunliche Erkenntnis und ich kenne das wohltuende Gefühl, wenn es mir gelungen ist, solch eine offene Rechnung zu begleichen. Was Walther angeht, so gibt es da nichts mehr gutzumachen. Wie Du richtig bemerkst, ist es auch heute sehr schwer, einzuschätzen, wie der Betroffene das gelegenliche Verleugnen empfunden hat. Ich habe einen Weg gefunden, auch solche "abgefahrenen Züge" noch einzuholen: Indem ich gelegenlich anderen, z.B. einsamen älteren und gehandicapten Menschen ganz unerwartet einen Gefallen tue. Ein Spaziergang mit dem Rollstuhl, eine Fahrt zum Arzt oder Ähnliches gibt mir das Gefühl, etwas abgearbeitet zu haben. Es ist schon erstaunlich, mit welchen Überraschungen das Alter aufwarten kann. Das Weitergeben an die Kinder, von dem Du gesprochen hast, sollte gerade hier eine ganz wichtige Rolle spielen. Nochmnals danke und liebe Grüße an Dich, liebe Dana! ![]() galapapa Liebe Stimme, danke für Deine Gedanken zu meinem Text! Die Bärbel, von der Du schreibst, konnte mit ihrer Behinderung in einer ganz anderen Welt aufwachsen und leben, als Walther. Der Grund, Du sagst es ja selbst, ist der familiäre Hintergrund ihrer Geschichte. Bärbel war behütet und beschützt von einer starken Mutter, die sich ihrer Verantwortung der Tochter gegenüber absolut bewusst war. Gott sei Dank ist das nicht selten. Im Gegenteil, ich sehe immer wieder ehrfürchtig, mit wieviel Liebe, Ausdauer und Aufopferung manche Eltern und Angehörige diese Verantwortung umsetzen. Walther hatte dazu keine Chance. Die besondere Situation war eben auch die recht unmittelbare Nachkriegszeit in den frühen 50ern. Die Eltern lebten mehr schlecht als recht von einer kleinen Landwirtschaft und sind früh gestorben, als Walther noch ein Kind war. Von da an, war er in der Obhut von zwei Brüdern. Einer ging im Autowerk arbeiten, der Andere machte mit der Landwirtschaft weiter. Beide waren dorfbekannte Trinker und beide sind daran inzwischen auch gestorben. Walther verwahrloste nicht nur äußerlich. Verzweifelt, so sehe ich das heute, suchte er bei Mitmenschen Zuwendung und fand nichts als Spott und Ablehnung, mit wenigen Ausnahmen. Ich habe ihn immer nur lachen sehen, selbst den Spott der Straßenkinder muss er als Spiel empfunden haben. Niemals war er ärgerlich oder gar aggressiv, obwohl die Brüder sehr grob mit ihm umgingen und ihn auch schlugen. Walther wohnte mit seinen Brüdern gegenüber des Anwesens meiner Großeltern. Er war älter als ich und als kleiner Junge war ich oft mit ihm zusammen. Ich bin selbst deswegen ab und zu gehänselt worden, doch die Freundschaft bleib bestehen, bis ich wegzog und wir uns aus den Augen verloren. Ich mache mir nicht einmal so große Vorwürfe, weil ich ab und zu einfach so getan habe, als wäre ich nicht zuhause, wenn er mich besuchen wollte. Er kam sehr oft und manches Mal wurde es mir mit zunehmendem Alter einfach zu viel. Es ist sein Gesicht, das mich verfolgt; sein Gesicht, als ich ihn einmal beobachten konnte, wie er unverrichteter Dinge wieder abzog. Das Lachen war verschwunden und ich las Enttäuschung in seinem traurigen Gesichtsausdruck. Allein das Fehlen des Lachens hatte bei Walther eine besondere Wirkung auf mich. Nach dem Tod seiner Brüder hat man ihn in einem Heim untergebracht. Ich habe keine Ahnung, wie das auf ihn gewirkt hat, aber kein sehr gutes Gefühl und kann nur hoffen, dass er in der neuen Umgebung doch so etwas wie Liebe und Zuwendung erfahren durfte. Liebe Stimme, ich hoffe, dass ich mit dieser präziseren Beschreibung von Walthers Leben auch den Zorn etwas beschwichtigen konnte, den Du empfunden hast. Ich habe das Gefühl, es gibt unter den Betroffenen Mitmenschen mehr Bärbel- als Waltherschicksale und das versöhnt ein wenig. Mit herzlichen Grüßen an Dich! ![]() galapapa Geändert von Galapapa (11.10.2011 um 15:50 Uhr) |
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