19.10.2011, 20:30 | #1 |
TENEBRAE
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Sterbebettlägrig
Aus meiner tiefsten Mitte gerissen
und verschleudert ins Nichts schau ich der Welt ins Gewissen. Geschworener keines Gerichts erbitte ich niemandes Lauschen, bevor mich das Schweigen schlägt. Ob keiner je mit mir tauschen mag, eh es mir Trauer trägt? Bald sterben auch die Gedanken, treib ich mir selber davon. Es fallen die Säulen ins Wanken, sag, bersten die Mauern schon? Sag, halten die fallenden Tage ein Weniges kostbar und heil? Erlaub mir die Gnade der Frage: Liebt mich die Erde noch, weil enthobenes Sichgewöhnen nicht weiß, was die Stunde schlägt? Haben mein Schluchzen und Stöhnen am Ende sie gar nicht erreicht? Und wenn sie mich doch nicht mehr trägt - sag: Wird mir das Fortgehen leicht?
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
12.11.2011, 08:30 | #2 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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hallo erich,
wagt sich hier keiner ran an das gedicht? na, ist ja auch ein schwieriges thema. die innenwelt eines todkranken menschen hast du sehr nachvollziehbar in worte geschmiedet - seine zweifel, seine einsamkeit, diesen ( fast unhörbaren) vorwurf an die welt, sich mit seiner situation auseinanderzusetzen: [BAus meiner tiefsten Mitte gerissen und verschleudert ins Nichts schau ich der Welt ins Gewissen[/B] aber: die welt sieht nicht gerne auf den tod hin - zu viele eigene ängste sind daran geknüpft. wirklich hinzusehen wagen nur wenige.(und es kostet auch jenen mutigen viel kraft, immer wieder) interessant ist der vergleich mit dem gericht, in dem sich der todkranke gefühlsmäßig zu befinden scheint - aber wieso als "geschworener"? ( sollte er sich nicht viel eher als angeklagter auf der anklagebank fühlen - da er doch zum tode verurteilt ist?) ein geschworener hat im gericht nichts zu befürchten, es kann ihm also auch egal sein,ob ihn "die welt" hört oder nicht. Ob keiner je mit mir tauschen mag, eh es mir Trauer trägt also hier schient sich das LyrIch einer Illusion hinzugeben - wer sollte je mit einem todkranken tauschen wollen? ich denke, das weiß man, dass das keiner wirklich wollen kann. würdest etwa du? würde ich? es gibt natürlich schon die situation, dass jemand aus liebe oder heldenmut sein leben für einen anderen einsetzt. ( mir ist aber kein krankheitsfall bekannt, wo dies möglich gewesen wäre) Die folgenden Zeilen passen auch generell ins Bild des Alterns, Älter-Werdens: Bald sterben auch die Gedanken, treib ich mir selber davon. Es fallen die Säulen ins Wanken, sag, bersten die Mauern schon? Sag, halten die fallenden Tage ein Weniges kostbar und heil? Erlaub mir die Gnade der Frage: Liebt mich die Erde noch, weil enthobenes Sichgewöhnen nicht weiß, was die Stunde schlägt. Darüber kann man / sollte man nachdenken: Haben mein Schluchzen und Stöhnen am Ende sie gar nicht erreicht? Und wenn sie mich doch nicht mehr trägt - sag: Wird mir das Fortgehen leicht? Mit "Schluchzen und Stöhnen" würd ich andere erst gar nicht belasten wollen - es hilft ja keinem. Wie man den letzten Vers hinkriegt: WIE Wird mir das Fortgehen leicht? daran bastle ich persönlich schon seit ich jung bin. ich denke, es wird trotzdem eine machtvolle hürde werden. eine, über die aber letzlich noch jeder drübergekommen ist - so oder so. nicht "gerne" gelesen - aber dafür umso aufmerksamer, technisch wie immer ohne jeden fehl und tadel, inhaltlich wirklich "schwere kost"! ein bravo für den mut, sich dem zu stellen! lg, larin
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Cogito dichto sum - ich dichte, also bin ich! |
12.11.2011, 21:18 | #3 |
TENEBRAE
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Hi, larin!
Vielen Dank für deine Gedanken zu diesem Thema (es versickerte lang vor sich hin...) - es war, als ich es schrieb, für mich so eine Art Seelenhygiene: Ich schrieb mir meine Depression so von selbiger, und hinterher ging's mir besser! Das Akrostichon hast du gar nicht bemerkt, oder? Macht nix - DAS ist wohl das größte Kompliment für diese Art Lyrik, denn es ist oft nicht leicht, das "Gerüst", wie Anne es nennt, so geschickt einzuweben, dass es nicht zusammengestückelt wirkt und dem Leser so seine wahre Natur verrät! Und zum "Fortgehen": Ich denke, je dreckiger es einem zum Ende hin geht, desto leichter fällt es einem letztendlich, loszulassen. Was als Gedanke nicht eben hilfreich sein mag - aber so ist es eben... LG, eKy
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12.11.2011, 21:31 | #4 | |
Erfahrener Eiland-Dichter
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hallo erich,
Zitat:
danach hätte ich in deinen texten aber auch gar nicht ausschau gehalten, weil ich ja weiß, dass du kein besonderer freund davon bist. toll gemacht - wirklich "gut versteckt" ! (obwohl es ja offen sichtbar ist) was das "fortgehen" anlangt: also, ich hätte nix dagegen, wenns mir bis zum schluss gut gehen könnte! sekundentod oder tod im schlaf - was spricht da dagegen? ( ich denke, das wäre im fall der fälle auch für die angehörigen nervenschonender. wer will schon einem menschen, den er liebt, beim dahinsiechen zusehen?) ob wir uns das aber aussuchen werden können? das schicksal , das uns treffen soll, wird uns finden! bis dahin aber: lass uns das leben feiern, solange wir es haben! liebe grüße, schönen abend noch, larin
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12.11.2011, 23:42 | #5 | |
Slawische Seele
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Lieber eKy,
auf ein Akrostichen wäre ich ebenfalls nie im Leben gekommen, und zwar aufgrund der vielen Verse, die zu ausgewogen daher kommen. (Nichts deutet auf eine Verbiegepflicht um der Buchstaben willen.) Wenn ich du wäre, wählte ich diese Worte als Titel. (Allerdings weiß ich nicht, ob das erlaubt ist.) Gedanken darüber hat sich bestimmt schon jeder einmal gemacht. Diese als Gedicht zu "wagen" ist etwas anderes - und das können nur gute Dichter, also DU. Nur hier: Zitat:
Ich mag gekonnte Tiefgänge. Eine Antwort darauf wage ich nicht, sie wäre immer spekulativ. Aber ich wünsche mir, dass es in dem Moment oder kurz danach ein Erkennen gibt. Ich nenne es "ein Ahaerlebnis", in dem wir auf alles eine Antwort bekommen. Dann würde ich auch einsehen, dass für das "nächste Mal" alles wieder gelöscht wird. Liebe Grüße, direkt aus dem Seelenhaus, Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben. (Frederike Frei) |
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23.11.2011, 21:17 | #6 |
TENEBRAE
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HI, Larin, Dana!
Danke für euer Lob und eure Gedanken. In anderen Foren gab es auch negative Kritik, aber ich finde dieses Akrostichon eigentlich recht gelungen dafür, dass ich keine Übung damit habe. Es ist, wie Dana sagt, recht homogen geschrieben, nicht zusammengestückelt wie viele solche Versuche, wo die Autoren nur froh waren, überhaupt eine einigermaßen brauchbare Fortsetzung gefunden zu haben. Das Akrostichon auch als Titel zu nehmen, ist irgendwie....unschön. Es ist wie ein verunsicherter Hinweis, eine doppelte Verneinung im stilistischen Sinne. Ich finde, Titel und Akrostichon sollten entweder einander erklärend unterstützen oder ergänzen, oder eine konträre Sichtweise aufzeigen, einander konterkarieren. LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
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