06.01.2015, 13:00 | #1 |
TENEBRAE
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Der Vernünftige
Von allen Dingen, die im Dunkeln gären,
war ihm der Drang am wenigsten geheuer, der Duft von draußen sucht und Abenteuer aus Träumen, die sich niemals ganz erklären. Er scheute jede Gunst, die sie gewähren, verbarg sich hinter Floskeln und Gebärden, und aller Triebe, die ein Sein gefährden, entschlug er sich, als ob sie giftig wären. Und er begann den feigen Geist zu nähren, erklärte sich sein Zaudern lieb und teuer, und nannte es Berechnung und Verstand. Die Buckel seiner Seele trieben Schwären und machten ihn zu einem Ungeheuer - dem reichsten und geehrtesten im Land.
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. Geändert von Erich Kykal (28.04.2018 um 23:53 Uhr) |
06.01.2015, 20:00 | #2 | |
Slawische Seele
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Lieber eKy,
erst kürzlich habe ich einen Film gesehen, wo jene "Vernunft" tatsächlich allerliebst in Rhetorik funktionierte. Die "errechneten" (berechneten) Geschäfte dahinter machten das Ungeheuer fast unsichtbar und zwangen das Umfeld direkt zur Verehrung und Verbeugung. Ich habe mehrmals gelesen, weil sich diese "Vernunft" nicht sofort erschließt. Vielleicht darum, weil das Wort zunächst positiv wirkt. Die letzten Verse zeigen die andere Seite auf - sehr weise erdacht und verdichtet. Weil es durchgehend "er" heißt, stört mich in der 2. Strophe "ein Sein". Das klingt sehr allgemein. Es käme besser 'rüber, wenn es "sein Sein" hieße. Wegen der zwei "s" hintereinander geht der Sprachklang verloren. So erkläre ich mir deine Absicht. Ein unbedeutender Vorschlag: Zitat:
verbarg sich hinter Floskeln und Gebärden; die Triebe, die im Vorteil ihn gefährden, entschlug er sich, als ob sie giftig wären. Gefällt mir sehr, die "Vernunft" einmal so zu betrachten. Insbesondere ob der fabelhaften Verdichtung. Liebe Grüße Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben. (Frederike Frei) |
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06.01.2015, 21:23 | #3 |
TENEBRAE
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Hi, Dana!
Ein Filmzitat aus "Sherlock Holmes und der Tempel des Todes": Der junge Watson verweigert eine wagemutige Aktion mit den Worten: "Ich bin nicht feige - ich bin nur vernünftig." Holmes lapidare Antwort: "Feiglinge SIND vernünftig!" Bei "sein Sein" wäre es nicht bloß ein doppeltes "s", sondern gleich zweimal dasselbe Wort! Die Phrase "sich einer Sache entschlagen" bedingt den Genitiv: Sich WESSEN entschlagen? Bei deinem Vorschlag stimmt also schon mal der Artikel nicht, es muss "der Triebe ... // entschlug er sich" heißen. Aber was genau willst du mit "Triebe, die ihn im Vorteil gefährden" aussagen? Hier ist die Rede von Abenteuerlust, Risikobereitschaft, Aufgeschlossenheit usw. als Triebe, die er mied, da sie sein Leben, sprich Sein, hätten gefährden können. Vielen Dank für deine Gedanken und das Lob! LG, eKy
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07.01.2015, 18:53 | #4 |
Slawische Seele
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Hi, eKy,
ich habe das Gedicht anders (falsch) verstanden. Statt des Abenteurers, des Risikofreudigen hatte ich das Bild eines verschlagenen, egoistischen "Vorteilsuchers". Einer der sich immer zur rechten Zeit am rechten Ort befindet, um am Ende zum reichsten und verehrtesten Ungeheuer zu werden. Darum meinte ich, dass er selbst die menschlichen (positiven) Triebe unterdrückte, wenn sie seinem Ego nicht von Vorteil waren. Aber du bist der Autor und ich lasse mich gern belehren. Liebe Grüße Dana
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07.01.2015, 21:39 | #5 |
TENEBRAE
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HI, Dana!
Ich meinte es so: Wenn sich einer jedes Risilo, jedes Wagnis verbietet, jede Abenteuerlust und Lebensfreude als sinnlos abtut, sich ganz auf "Vernunft" und Karriere konzentriert, mag er Erfolg haben, sogar Macht und Ruhm erlangen - er wird dennoch nie richtig gelebt haben, letztlich an der eigenen Kälte verbittern, die Leere, die er in sich spürt, mit Oberflächlichkeiten und Besitz betäuben - kurz, ein hartherziges, geiziges Monster werden. Ebenezer Scrooge aus Dickens' "A Christmas Carol" stand mir da vor Augen. Wird ja zu Weihnachten immer in mehreren Versionen gezeigt. An besten gefallen mir die originalgetreue Computeranimation mit Jim Carey als Animator des Protagonisten sowie die modern adaptierte Version mit Bill Murray: "Die Geister, die ich rief" (im Original: "Scrooged"). LG, eKy
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