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Alt 04.04.2016, 10:07   #1
Thomas
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Lieber Aufwind,

sei gegrüßt auf der Insel.

Ich glaube das wesentliche Problem, was Erich als falschen Pathos empfand, besteht darin, dass du einen Aufruf schreibst. Die bekommen der Poesie nicht, da bei einem Aufruf der Zweck ganz im Vordergrund steht – ähnlich wie bei einer Gebrauchsanweisung, die selbst in gereimter Form nicht zum Gedicht wird, etwas „Sie müssen nur dem Nippel durch die Lasche ziehn...“

Wenn du die gleiche Aussage persönlich, bzw. zu etwas Persönlichem machst, besteht die Möglichkeit, dass sie poetisch wird. Der Leser kann dann erkennen und möglicherweise frei entscheiden, sich die darin enthaltene Aufforderung zu Eigen zu machen.

Ich füge zwei Beispiele von Heinrich Heine an, bei denen mir das gelungen erschein.

Liebe Grüße
Thomas


Doktrin

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Trommle die Leute aus dem Schlaf,
Trommle Reveille mit Jugendkraft,
Marschiere trommelnd immer voran,
Das ist die ganze Wissenschaft.

Das ist die Hegelsche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn!
Ich hab sie begriffen, weil ich gescheit,
Und weil ich ein guter Tambour bin.



Enfant Perdu

Verlorner Posten in dem Freiheitskriege
Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.
Ich kämpfe ohne Hoffnung, daß ich siege,
Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus.

Ich wachte Tag und Nacht - Ich konnte nicht schlafen,
Wie in dem Lagerzelt der Freunde Schar -
(Auch hielt das laute Schnarchen dieser Braven
Mich wach, wenn ich ein bißchen schlummrig war.)

In jenen Nächten hat Langeweil ergriffen
Mich oft, auch Furcht - (nur Narren fürchten nichts) -
Sie zu verscheuchen, hab ich dann gepfiffen
Die frechen Reime eines Spottgedichts.

Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme
Und nahte irgendein verdächtger Gauch,
So schoß ich gut und jagt ihm eine warme,
Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch.

Mitunter freilich mocht es sich ereignen,
Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut
Zu schießen wußte - ach, ich kann's nicht leugnen -
Die Wunden klaffen - es verströmt mein Blut.

Ein Posten ist vakant! - Die Wunden klaffen -
Der eine fällt, die andern rücken nach -
Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen
Sind nicht gebrochen - nur mein Herze brach.
__________________
© Ralf Schauerhammer

Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller
Thomas ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2016, 19:14   #2
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Ort: Österreich
Beiträge: 8.570
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Hi, Aufwind!

Ich habe dein Gedicht nicht "Richtung Islamismus" gedeutet, ich wollte nur ins Feld führen, dass diese Art Pathos, wie sie aus deinen Zeilen klingt, ganz allgemein betrachtet dieselbe ist, wie sie auch jene Menschenverhetzer verwenden, um nützliche Idioten für die "heilige Sache" anzuwerben.
Denn "Freiheit" oder "wahrer Glaube" sind nur austauschbare Worthülsen, die von jenen mit "Botschaft" im Rahmen der jeweiligen Kultur mit Bedeutung befrachtet werden.
Die kann dann recht dehnungsfähig sein, je nach persönlicher oder gesellschaftlich indoktrinierter Definition: Was für den einen noch Freiheit ist, erscheint dem anderen schon wie perverse Ausschweifung usw...
So gesehen muss man mit derlei Gemeinplätzen immer vorsichtig sein - sie sind eben vieldeutig auslegbar, und plötzlich sieht man sich als "Sprachrohr" einer Ideologie, die man gar nicht ansprechen wollte!

So, genug Philosophie für heute!


Hi, Thomas!

Also, wenn du mich fragst - Heinrich Heine würde ich jetzt nicht als lyrisches Vorbild ausweisen! Für mich ist er größtenteils dichterisches Mittelmaß, was Rhythmus, Versbildung, Sprachfindung und -melodie angeht.
Seine Bekanntheit ist hauptsächlich seiner - damals neuen und mutigen - Sozialkritik und politischen Kritik geschuldet, nicht seinen doch recht limitierten poetischen Fähigkeiten!


LG, eKy
__________________
Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
Erich Kykal ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2016, 19:58   #3
anamolie
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard

Na, Philosophie kann man den Baatz ja nicht gerade nennen, den der Herr
Kykal da in die Landschaft sondert!
"Freiheit" ist mitnichten nur irgendwas - das Spektrum von Freiheit,
Ausschweifung, Liberalismus, Orgie, Verbrechen, mag ja weit gehen,
aber es ist sehr leicht, einem Menschen die Freiheit zu nehmen!

Handschellen, clic clic, die eine an die Hand, die andere an, sagen wir mal,
zB, ein Heizungsrohr. Mal schauen, wie lange der Herr Kykal da brauchen
würde, um gewissen Grundbegriffen von Lebendigkeit wieder sich selbst
einzuräumen... wie gnädig, dass das Leben auch jenseits verquaster
"Philosophie" noch sowas Banales wie Substanz haben darf.

---

Heine so zu benennen, empfinde ich als recht dummdreist.

Das hinterlässt mich doch recht entsetzt!
Er mag ja limitiert an Metrum "einfach drauflos gevierzeilt" haben,
aber wer einen Asra schreibt, ist für mich im Dichter-Olymp angekommen!

Oder Childe Harold. Schlicht NIEMAND hat es jemals geschafft,
so wie Heinrich Heine tragisch-düstere Romanzen zu verfassen, NIEMAND.

Gedichte sind nicht nur ausgebuffte Metrik, sondern auch Ton,
Traum, Tragik, und da ist Heine mE unübertroffen, schlicht ein Meister.

Der hätte NUR den Asra schreiben können, und er hätte damit Alle übertroffen.
Also, Heine so despektierlich abzutun --- halte ich für ein Verbrechen,
eine Straftat, die unter deutschen Dichtern GAR NICHT geht!

---

Ich hab/hatte Aufwinds Gedicht schon so verstanden, unabhängig von einem
Politikum gleich welcher Art, eher als moralische Aufforderung, insofern
glaube ich, verstand ichs auch ganz richtig.
Das Problem daran, das mich daran gelangweilt hat:

Es ist eine Proklamation. Alleine..., ach, ich schreibs als Poesie:



Tats, dem wehen, wunden
Herzen, feurig brennend,
aus dem Hades hochgeschunden,
nurmehr Feinde kennend ---

Ists dem wahren Helden
doch nur steter Hohn,
zeichnet er den Herzgemälden
Mut als Proklamation.

Muss ers erst noch
proklamieren ---
lacht der Hades doch,
beim Noch-Krepieren.



Entweder man tuts, oder man schreibts.
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Alt 04.04.2016, 21:39   #4
charis
/ Bil-ly /
 
Registriert seit: 02.10.2015
Beiträge: 435
Standard

Ich weiß jetzt gar nicht, wen ich als erstes verteidigen soll, Heine oder Aufwind. Heine lass ich unten dann einfach für sich selbst sprechen und man beachte vor allem auch seine hellseherischen Fähigkeiten!

Lieber Aufwind,

Erst einmal herzlich willkommen! Lass dich nicht verunsichern. Da muss man durch!

Deine Anliegen gefallen mir! Nur messianische Aufrufe mögen zwar hehren Absichten entspringen, aber hat das bisher in der Menschheitsgeschichte etwas genützt? Ich persönlich finde, dass Lyrik eher dafür da ist, Letzteres zu thematisieren! (Gesellschaft)politische Anliegen in Lyrik zu verpacken ist die schwierigste Aufgabe, die man sich als Schreiben vornehmen kann. Aber lass dich nicht entmutigen und mach weiter!

Lieben Gruß
charis



Almansor

In dem Dome zu Corduva
Stehen Säulen, dreizehnhundert,
Dreizehnhundert Riesensäulen
Tragen die gewaltge Kuppel.

Und auf Säulen, Kuppel, Wänden
Ziehn von oben sich bis unten
Des Korans arabsche Sprüche,
Klug und blumenhaft verschlungen.

Mohrenkönge bauten weiland
Dieses Haus zu Allahs Ruhme,
Doch hat vieles sich verwandelt
In der Zeiten dunkelm Strudel.

Auf dem Turme, wo der Türmer
Zum Gebete aufgerufen,
Tönet jetzt der Christenglocken
Melancholisches Gesumme.

Auf den Stufen, wo die Gläubgen
Das Prophetenwort gesungen,
Zeigen jetzt die Glatzenpfäfflein
Ihrer Messe fades Wunder.

Und das ist ein Drehn und Winden
Vor den buntbemalten Puppen,
Und das blökt und dampft und klingelt,
Und die dummen Kerzen funkeln.

In dem Dome zu Corduva
Steht Almansor ben Abdullah,
All die Säulen still betrachtend,
Und die stillen Worte murmelnd:

»O, ihr Säulen, stark und riesig,
Einst geschmückt zu Allahs Ruhme,
Jetzo müßt ihr dienend huldgen
Dem verhaßten Christentume!

Ihr bequemt euch in die Zeiten,
Und ihr tragt die Last geduldig; -
Ei, da muß ja wohl der Schwächre
Noch viel leichter sich beruhgen.«

Und sein Haupt, mit heiterm Antlitz,
Beugt Almansor ben Abdullah
Über den gezierten Taufstein,
In dem Dome zu Corduva.

2

Hastig schritt er aus dem Dome,
Jagte fort auf wildem Rappen,
Daß im Wind die feuchten Locken
Und des Hutes Federn wallen.

Auf dem Weg nach Alkolea,
Dem Guadalquivir entlange,
Wo die weißen Mandeln blühen,
Und die duftgen Goldorangen;

Dorten jagt der lustge Ritter,
Pfeift und singt, und lacht behaglich,
Und es stimmen ein die Vögel
Und des Stromes laute Wasser.

In dem Schloß zu Alkolea
Wohnet Clara de Alvares,
In Navarra kämpft ihr Vater,
Und sie freut sich mindern Zwanges.

Und Almansor hört schon ferne
Pauken und Trommeten schallen,
Und er sieht des Schlosses Lichter
Blitzen durch der Bäume Schatten.

In dem Schloß zu Alkolea
Tanzen zwölf geschmückte Damen,
Tanzen zwölf geschmückte Ritter,
Doch am schönsten tanzt Almansor.

Wie beschwingt von muntrer Laune,
Flattert er herum im Saale,
Und er weiß den Damen allen
Süße Schmeichelein zu sagen.

Isabellens schöne Hände
Küßt er rasch, und springt von dannen;
Und er setzt sich vor Elviren,
Und er schaut ihr froh ins Antlitz.

Lachend fragt er Leonoren:
Ob er heute ihr gefalle?
Und er zeigt die goldnen Kreuze
Eingestickt in seinen Mantel.

Er versichert jeder Dame:
Daß er sie im Herzen trage;
Und »so wahr ich Christ bin!« schwört er
Dreißigmal an jenem Abend.

3

In dem Schloß zu Alkolea
Ist verschollen Lust und Klingen,
Herrn und Damen sind verschwunden,
Und erloschen sind die Lichter.

Donna Clara und Almansor
Sind allein im Saal geblieben;
Einsam streut die letzte Lampe
Über beide ihren Schimmer.

Auf dem Sessel sitzt die Dame,
Auf dem Schemel sitzt der Ritter,
Und sein Haupt, das schlummermüde,
Ruht auf den geliebten Knieen.

Rosenöl, aus goldnem Fläschchen,
Gießt die Dame, sorgsam sinnend,
Auf Almansors braune Locken -
Und er seufzt aus Herzenstiefe.

Süßen Kuß, mit sanftem Munde,
Drückt die Dame, sorgsam sinnend,
Auf Almansors braune Locken -
Und es wölkt sich seine Stirne.

Tränenflut, aus lichten Augen,
Weint die Dame, sorgsam sinnend,
Auf Almansors braune Locken -
Und es zuckt um seine Lippen.

Und er träumt: er stehe wieder,
Tief das Haupt gebeugt und triefend,
In dem Dome zu Corduva,
Und er hört viel dunkle Stimmen.

All die hohen Riesensäulen
Hört er murmeln unmutgrimmig,
Länger wollen sies nicht tragen,
Und sie wanken und sie zittern; -

Und sie brechen wild zusammen,
Es erbleichen Volk und Priester,
Krachend stürzt herab die Kuppel,
Und die Christengötter wimmern.

Geändert von charis (05.04.2016 um 06:32 Uhr)
charis ist offline   Mit Zitat antworten
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