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Alt 24.12.2016, 09:52   #1
Wodziwob
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Standard Der Winzling


Der Winzling

„Desperado, mir wurde gesagt, dass du es mit den Indianern dieser Gegend hältst?“

Der bärtige Treckführer hat den breitkrempigen Hut abgenommen, als er mir diese Frage stellt, eine Höflichkeitsgeste, die er sich sonst erspart, also muss es sich wohl um etwas außergewöhnlich Wichtiges handeln, das ihm derlei Demutsgebaren abnötigt. Ansonsten ist der grobschlächtige Schrank von Kerl nicht zimperlich, wenn es darum geht, die stets brüchige Ordnung in seinem Wagenzug mittels seiner unerbittlichen Autorität aufrechtzuerhalten, die niemand in Frage stellt, es sei denn, er ist lebensmüde.

„Wurde Ihnen gesagt, so so, was die Leute so alles sagen.“

Aber Mister Treckleader ist ganz offensichtlich nicht zu Späßchen aufgelegt. „Kennst du die Rothäute hier oder nicht?“ Sein fordernder Befehlston lässt keinen Zweifel offen an der Ernsthaftigkeit seines Anliegens.

„Worum geht’s?“

„Wir haben hier eine Erstgebärende“, er weist mit dem Kopf in Richtung eines der Planwagen, die sich zur Nachtruhe im Kreis zu einer Burg geschlossen haben, „der Brocken von Kind will ums Verrecken nicht raus, einen geschlagenen Tag lang liegt die Arme schon in den Wehen, unsere Hebamme hat alles Menschenmögliche versucht, sie ist mit ihrer Weisheit am Ende und befürchtet das Schlimmste, und da hat mir...“, er hält kurz inne, scheint zu überlegen, „also mir wurde jedenfalls mitgeteilt, dass die Indianer hier ganz ausgezeichnete Medizinfrauen haben sollen. Das Problem ist nur, dass leider kein Mensch weiß, wo die sich verstecken und niemand ihre Sprache spricht, nun, da soll mich doch der Teufel holen, wenn das ein Zufall ist, dass du grade jetzt seit ein paar Tagen mit uns ziehst“, der Versuch eines Lächelns huscht über seine gegerbten Züge, das wohl gewinnend sein soll, „also alle waren sich einig, dass...“

„... ich der richtige Mann bin für diese Mission.“

Blitzartig fällt mir ein mexikanischer Kumpel ein, der den Versuch, ein Neugeborenes, das er zusammen mit zwei Freunden in der Wüste gefunden hatte, in die nächstbeste City zu bringen, mit dem Leben bezahlt hat, als er sich in den Lavabeds ein Bein brach und den Gnadenschuss gab, um sich ein qualvolles Verrecken zu ersparen.

Die drei unglückseligen Helden befanden sich dummerweise auf der Flucht, weil sie eine Bank um ihren Tresorinhalt erleichtern wollten, was gründlich schiefging und wobei ihr Greenhorn sich eine Kugel einfing. Nachdem sie ihre zu Tode erschöpften Pferde hatten erschießen müssen, finden sie in einem verlassenen Prärieschoner eine Frau, die in den Wehen liegt, ihr Mann war verschollen und die Ärmste hat die Geburt nicht überlebt, das Söhnlein indessen erfreut sich bester Gesundheit und nimmt die Herzen der drei Halunken im Sturm. Und so werfen diese ihre Pläne um und schlagen den Weg in die nächstgelegene City ein.

Die drei haben bald keinen Tropfen Wasser mehr, das wenige, das sie aus Kakteen pressen können, träufeln sie ihrem Findelkind ein, das über beide Ohren verschossene Greenhorn erliegt bald darauf dem Wundbrand, als nächsten erwischt es meinen Amigo Mexicano, und nur ihr Anführer, ein bärbeißiger Haudegen, erreicht mit letzter Kraft das Nest, weil er das Glück hatte, rechtzeitig eine Eselin mit ihrem Füllen zu finden, die den zu Tode Erschöpften geduldig in die kleine City trug. Beim Durchqueren eines Canyon sollen ihm die Geister seiner Freunde erschienen sein und ihn angefeuert haben, ja mit Tritten zum Aufstehen bewegt, als er bereits halb bewusstlos zu Boden gesunken war und sich zum Sterben hingelegt hatte.

Der Richter indes soll so gerührt, beeindruckt und ergriffen gewesen sein, dass der Bursche seine Freiheit preisgegeben hatte, nachdem er den verbissenen Verfolgern über die Landesgrenze entkommen hatte können, nur um den Kleinen zu retten - der übrigens in einer guten Familie unterkam -, dass er den Geläuterten kurzerhand mit Begnadigung entlohnte.

„Well, da liegen sie wohl nicht daneben, Ihre Fährtenleser,“ reiß ich mich selbst aus den weit entfernten Gedanken, „würd ich so sagen, dann will ich mich mal schleunigst auf die Hufe machen, das nächste Navajodorf ist sogar ganz in der Nähe, die Geburtshelferin kenn ich zwar nur vom Sehen, aber ein paar Schafhirten, mit denen hab ich seinerzeit... ist jetzt unwichtig, ich schau auf alle Fälle mal, was sich machen lässt. Ich meine, geht ja schließlich um ein Baby, da schmelzen die Navajofrauen sowieso hin, seine Hautfarbe ist ihnen dabei völlig gleichgültig, Neugeborene sind was Heiliges für die Navajo, unantastbar heilig, also das wird schon klappen, geh’ ich mal von aus.“

Schnapp mir den Hut des Treckführers, wende mein Pferd und lass den guten Mann stehen, der mit offenem Mund in der Rede gestockt hat und mir mit erhobener Hand und gestrecktem Zeigefinger nachschaut, als wolle er mir noch irgendwas Bedeutendes hinterherschicken, nur gibt es nichts mehr zu sagen, weil alles gesagt ist, was es zu sagen gibt und keine Zeit zu verlieren.

Es kostet mich wenig Mühe, den Navajowächter von der Dringlichkeit meines Besuches zu überzeugen, der mich nach einer dreiviertel Stunde Ritt hinein in die Berge abfängt und pflichtbewusst nach Woher und Wohin befragt, da ich mir zum Glück zwei der Namen meiner flüchtigen Navajofreunde hab merken können, bin ich als Freund erkannt und begrüßt. Unter seiner Führung erreichen wir bald darauf die Hogans, die sich hinter einem bergenden Steinkamm in eine geräumige Mulde schmiegen. Neugierig laufen die überschaubaren Bewohner auf der Placa inmitten der halbkreisförmig angelegten Behausungen zusammen, da mich die drei Schafhirten wiedererkennen und freudig empfangen, stehe ich auch bald vor der Schamanin, eine beeindruckende mittelalte Erscheinung mit stechendem Blick, die mich misstrauisch mustert.

„Der Häuptling der fahrenden Zelte schickt mich,“ fange ich ohne große Umschweife zu erklären an und zeige ihr als Beleg seinen stattlichen Hut, seine Häuptlingshaube gewissermaßen, „eine weiße Frau will ihr Kind zur Welt bringen, aber dieses hat keine rechte Lust dazu, seine heimelige Wohnstatt zu verlassen und möchte lieber im Leib der Mutter bleiben, so dass Beiden der sichere Tod droht, wenn ihnen niemand zu Hilfe eilt, der die Pforte öffnen kann und das Kind zum Rauskommen überreden, so wie du, weise Mutter, es vermagst.“

Über das verhärmte und harte Gesicht der von Verfolgung und Entbehrung gezeichneten Medizinfrau huscht ein weicher und milder Ausdruck, ehe sie sich wieder fasst und schroff erwidert: „Haben die Weißaugen keine Hebammen, die ihr helfen können, was hab ich damit zu tun?“

„Nun“, geb ich kleinlaut zurück, „eine Geburtshelferin haben sie wohl, aber diese vermag es nicht, das Kind zu holen, ohne dabei die Mutter zu töten, und um dem Kleinen diese nicht zu nehmen, hat sie nach dir gefragt, weil sie auf die Fähigkeiten der wissenden Navajofrauen vertraut.“

Offenbar habe ich mit der Aussicht, die Medizinfrau des hoffärtigen weißen Mannes nicht nur als Bittstellerin einer verachteten Rothaut dastehen zu lassen, sondern sie auch noch zu übertreffen, den richtigen Ton gefunden, denn ohne ein weiteres Wort erhebt sich die Schamanin von ihrem behaglichen Felllager, gibt einer jungen, die Szenerie neugierig beobachtenden Frau einige Anweisungen und packt eilig ihr Bündel, und während der Dorfoberste zwei junge Krieger zu ihrem Begleitschutz bestimmt, taucht eine füllige, kräftige und reisefertige zweite Frau im Eingang des Hogan auf, das Gesicht leuchtend vor spannender Erwartung.

Verwundert verdreht die Kaktuseule ihren runden Kopf und bestaunt den seltsamen kleinen Zug, der in der angebrochenen Dunkelheit durch die schroffe Bergwelt geistert, voran ein schräger Vogel auf rundem Pferd mit Federhut, gefolgt von zwei Frauen, auf Eseln reitend und einen ebensolchen bepackten hinter sich herziehend, eskortiert von zwei wildaussehenden Kriegern auf ihren scheckigen Mustangs.

Als wir die Wagenburg erreichen, warten ein paar Leute fiebernd im Schein des Lagerfeuers, ich ordere meinen kleinen Tross an, sicherheitshalber mal im Dunkel zu bleiben und reite voran, schwing mich aus dem Sattel, händige dem Treckführer wortlos seinen Hut aus und gebe ihm unmissverständlich zu verstehen, dass die zwei mit verkniffenen Augen in die Nacht spähenden Fährtenleser ihre Gewehre mal schleunigst verschwinden lassen sollen, weil die mitgebrachten Helfer sich sonst weigern würden, auch nur einen Schritt ins Innere der Burg zu machen. Was diese auf seine Weisung in Gestalt eines Fingerschnippens ohne Murren tun, und während ich die Navajos rufe, kommt die Hebamme schweißgebadet aus dem Zeltwagen gelaufen und ohne Zögern der zögerlich heranreitenden Gruppe entgegengerannt.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie Frauen verschiedener Völker, Kulturen und Sprachen sich verständigen können, beide Parteien reden wild durcheinander, gestikulieren, fragen, geben Auskunft und nicken, als würden sie jedes einzelne Wort verstehen, es dauert keine Minute, bis die drei Frauen mit dem nötigen Handwerkszeug beladen und entschlossen eiligen Schrittes dem Planwagen zustreben, in dem die Gebärende sich wehklagend windet, ohne auf die verblüfften und hilflosen Männer zu achten, ja sie nicht einmal mit einem Blick zu streifen, die ihnen schweigend und beeindruckt den Weg freimachen.

Die Krieger haben sich bis an den Rand des Feuerscheins genähert und beobachten das Ganze mit wachsamen Augen, erhobenen Gewehren und gelassener, leicht verächtlicher Körperhaltung, und da die Bleichgesichter nichts anderes zu tun haben, beobachten sie wachsam zurück, breitbeinig, die Daumen lässig unter ihre Gürtelschnallen geschoben, und so belauert man sich eben aufmerksam und schweigend, während hinter der Plane seltsam monotone Gesänge erklingen und rätselhafte Düfte sich mit dem beißenden Rauch des Feuers vermengen.

Es vergeht keine Stunde, bis das Krähen eines Neugeborenen zu hören ist, im allgemein ausbrechenden Jubel versäumt es der Treckführer nicht, sich unverzüglich nach dem Befinden der Mutter zu erkundigen, begleitet vom Prediger, bereit zum letzten Geleit, aber als das überglückliche Gesicht der Hebamme in der Planenöffnung auftaucht, um ihnen zu verkünden, das Mutter und Kind wohlauf seien und es ein prächtiger Junge, reißt der Prediger lobpreisend die Hände gen Himmel und lässt der Treckführer jodelnd seinen Hut in hohem Bogen durch den Nachthimmel segeln. Meine Gegenwart ist schon seit geraumer Weile ohne Belang, der ich an ein Wagenrad gelehnt und in meine Decke gewickelt das unwirkliche Geschehen betrachte, weshalb ich unbemerkt zum Kutschbock des Wagens schlendern kann, ihn lautlos erklettern und einen Einblick ins Innere der Geburtstube erhaschen.

Im Schein einiger Petroleumlampen sind die Navajofrauen bereits dabei, ihre Mitbringsel in Felle zu wickeln, einige Kräuterbündel händigen sie der Hebamme aus, die ihren Worten aufmerksam lauscht, frau verständigt sich mit Handzeichen und Fingern, um die Anwendung zu übermitteln, was mich dazu veranlasst, als Dolmetcher einzuspringen, eine Einmischung, die nach einem ersten Schrecken über mein plötzliches Erscheinen dankbar angenommen wird. Dabei wage ich einen Blick auf die Mutter, der alle Strapazen, Angst, Schmerz und Mühe der endlosen Stunden aus dem Gesicht gewischt zu sein scheinen und die mit seligem Blick das kleine Bündel in ihrer Armbeuge studiert, mit gespitzten Lippen kosende Worte flüstert und die Welt um sich her vollkommen vergessen zu haben scheint. Was Wunder bei dem rötlichen Knirps, der mit verknittertem Gesicht aus den weichen Linnen lugt, mit feinem Flaum auf dem Kopf wie ein frisch geschlüpftes Falkenküken und Händen kaum größer als die einer Wüstenspringmaus, und der einen zwar erschöpften, aber recht zufriedenen Eindruck macht über seine endlich gefällte Entscheidung, das Licht der Welt doch noch erblicken zu wollen.

Die Frauen umarmen sich zur Verabschiedung herzlich wie alte Freundinnen, der Treckführer schüttelt den zurückhaltenden Indianerinnen die Hand, umgreift die ihre mit beiden Händen und dankbarer Verbeugung, die kleine Gruppe verlässt den Treck mit einer gutgenährten Kuh als Entgelt, von den geringfügig zutraulich gewordenen Kriegern wortlos und mit zustimmendem Nicken in Empfang genommen, und auch als die Navajo in der Nacht verschwunden sind, steht die Hebamme noch immer da und blickt ihnen nach, die Hand erhoben, nach unermüdlichem Winken in ihrer Bewegung innegehalten, ehe sie wieder emsig im Planwagen der Wöchnerin verschwindet, begleitet von ein paar aufgeregten Siedlerfrauen.

Ich bin im Trubel der allgemeinen Freude und grenzenlosen Erleichterung längst vergessen, niemand hat bemerkt, dass ich in aller Ruhe mein Pferd gesattelt habe und meines Weges geritten bin, während die Männer am Feuer die zweite Whiskeybottle rumgehen lassen, nachdem der völlig aufgelöste Vater mit dümmlich verklärtem Blick hintenüber gesunken ist.

Oh Mann, so ein Winzling, oh Mann, manchmal könnte man an das Leben glauben, so taufrisch kann es einem jedenfalls kostbar genug erscheinen, sein verpfuschtes dafür herzugeben.

Saludos Amigo mio, ich verstehe dich.



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