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Alt 28.03.2017, 21:26   #1
Thomas
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Warum sind "abgegriffene Reime" ein Problem?

Bisweilen stechen in Gedichten Worte ins Auge, die unpassend und manieriert klingen. Warum wurde nicht ein einfaches und naheliegendes Wort gewählt? Wenn man die Gelegenheit hat, den Autor zu fragen, erhält man fast immer zur Antwort, es handele sich bei dem einfachen Wort um einen "abgegriffenen Reim", als sei das etwas geradezu Unappetitliches. Vielleicht ist dieser "abgegriffene" Reim aber trotzdem das kleine Übel, wenn der neu geprägte Reim unpassend wirkt.

Was bedeutet "abgegriffen" überhaupt? In Verona steht von der "Casa dei Giulietta" eine Bronzestatue der Julia, sie ist wunderschön "abgegriffen". Diese Statue steht nicht nur herum, die Menschen "begreifen" ihre Schönheit, man könnte natürlich auch sagen, sie "betatschen sie". Jeder, der das tut, versichert sich damit der treuen Liebe der, bzw. des Geliebten und manche bringen kleine Zettel oder Schlösser mit ihren Namen in der Nähe der Statue an. Die Statue ist abgegriffen, weil sie genutzt wird, weil man etwas damit anzufangen weiß, weil sie auf Menschen eine Wirkung hat. Diese Wirkung hat sie jedoch nur im Zusammenhang mit Shakespeares bekannter Tragödie, in der die unverbrüchliche Liebe der Julia zu Romeo erblüht.

Gilt nicht das Gleiche auch für Reime – "abgegriffene" oder völlig neu geprägte? Auch sie wirken nur im Zusammenhang des gesamten Gedichts und können dabei so abgegriffen sein wie die Statue in Verona, wenn sie nur ihre wunderbare Wirkung entfalten und für den Leser Schönheit begreifbar machen.

[[File:Verona Statue der Julia .JPEG|none|fullsize]]

Geradezu ein Paradebeispiel für einen dieser "abgegriffenen Reime" ist "Rose und Nachtigall", was sich im Deutschen nicht reimt, dafür klingt es im Orient umso schöner: "Gül – Bülbül" auf Türkisch und "Gul – Bulbul" auf Persisch. Der Rose-Nachtigall-Reim ist in der persischen und türkischen Dichtung häufiger als der "Herz-Schmerz-Reim" im Deutschen. Nicht nur der Klang macht die Schönheit von "Gül – Bülbül" aus, sondern die Mannigfaltigkeit der poetischen Bilder, die von den beiden Reimworten aufgespannt wird, die selbst im Deutschen – wo die Worte unterschiedlich klingen – spürbar ist.

Übrigens ist "Herz-Schmerz" auch ein sehr guter Reim; deswegen haben ihn Dichter so oft verwendet. Schiller zum Beispiel verwendet ihn meisterlich in der Schlussstrophe des philosophischen Gedichtes "Die Macht des Gesanges", in welcher er die zuvor entwickelte Aussage über die Wirkung der Poesie in einem mitreißenden Bild verdichtet:

Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit heißen Reuetränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz:
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den Flüchtling der Gesang zurück,
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarnen.

Auf den bisweilen zu hörende Einwand, man könne heute "so" nicht mehr dichten, – leider können es die meisten Dichter wirklich nicht – könnte man viel sagen, aber das würde vom Wesentlichen ablenken.

Es geht um die Frage, ob dieser "abgegriffene" Reim "Herz-Schmerz" gut oder schlecht ist. Wie man sieht, hängt das davon ab, wie der Reim in dem jeweiligen Gedicht verwendet wird. Das ist heute natürlich schwieriger als früher, als er noch "frisch" war, da seine Geschichte – all die vielen einprägsamen Beispiele der Vergangenheit – unweigerlich mitschwingt. Aber den Reim einfach als "abgegriffen" abzustempeln und ihn zu vermeiden, das scheint mir das Kind mit dem Bade auszuschütten. Werfen wir denn die Statue der Julia in Verona auf den Müll, nur weil sie "abgegriffen" ist und nicht mehr neu aussieht?

Neue Wortschöpfungen und Reime sind für die Poesie lebenswichtig, es ist jedoch sehr schwer, wirklich gute neue Reime zu erfinden. Wenn diese neuen Reime nicht genau passend und natürlich, sondern "gemacht" wirken, dann sind sie einfach nicht gut gelungen und man sollte demütig auf das zurückgreifen, was große Dichter bereits erschaffen haben.

Es kommt natürlich bisweilen vor, dass man beim Dichten den Eindruck hat, dass ein bestimmter Reim, der doch eigentlich sehr gut passen würde, doch etwas "abgegriffen" zu sein scheint. Was tun? Anstatt nach einer neuen Wortkreation zu suchen, ist es dann wahrscheinlich einfacher und besser, einige Gedanken darauf zu verwenden, was an dem Gedicht insgesamt möglicherweise nicht tief, authentisch und schön genug ist. Vermutlich liegt hier die Ursache, wenn ein an sich passender Reim seine Wirkung nicht entfalten kann. Oft ist der "abgegriffene Reim" nur darum ein Problem. Mit dem Reim ist es eben wie mit einer Münze: Der Wert zählt, ob frisch geprägt oder abgegriffen.
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Geändert von Thomas (01.04.2017 um 14:28 Uhr)
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Alt 28.03.2017, 21:52   #2
Kokochanel
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ich finde deine Gedanken interessant, lieber Thomas.
Ich denke, die Reime, die dieselben Vokale haben wie auch Gül und Bülbül, Herz, Schmerz sind besonders attraktiv , da klangvoll und werden deshalb so gern verwendet.
Mich stört das in niveauvollem Kontext nicht, es kommt halt immer auf das Gesamtniveau des Werkes an.
Viel mehr stören mich so hochgestochene Ausdrücke wie mäandern, wenn man keinen Reim auf wandern findet.
Ich denke unsere Sprache ist vielfach in Gedichten abgeschliffen und verwurstet worden. Letztlich zählt immer das Gesamtkonzept, ob es niveauvoll oder simpel wirkt.
LG von Koko
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Alt 29.03.2017, 07:46   #3
Thomas
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Liebe Koko,

da kennst du wohl nicht das Gedicht eines berühmten Satirikers, worin es heißt:
Die Ergomans mäandern
von einer Mäh zur andern.
Vielen Dank für deinen Kommentar. Es freut mich, dass wir die Dinge ähnlich sehen.

Liebe Grüße
Thomas
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Alt 29.03.2017, 15:13   #4
Erich Kykal
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Hi Thomas!

Sehr gut argumentiert! Ich, der auch schon Herz auf Schmerz reimte, ohne mit der Wimper zu zucken, bin ganz bei dir!

Du hast es wunderbar ausgeführt, warum so manches in der Lyrik heute falsch läuft! Als in der Moderne die Malerei abstrakt wurde, waren die klassischen Landschaftsbilder, die Szenerien der alten Meister, ja selbst bis hin zu den Impressionisten, lange Zeit geradezu verpönt. Man nannte sie "alte Schinken in Essig und Öl", bieder, altbacken, überholt durch Fotokunst und vieles mehr.

Heute werden sie wieder hoch geschätzt und noch höher bezahlt! Dieser Schritt steht uns in der Lyrik wohl noch bevor: Das Altherbebrachte des Reimgedichts, der schönen Sprache um ihrer selbst willen, die hypnotische Verführung des Verstaktes zum inneren Tanz mit den Bildern - all dies gilt der "Avantgarde" heutiger Lyrik immer noch als abgegriffen und verstaubt. In ihrer elitären und weltfernen Sicht haben sie noch nicht begriffen, wie weit sie sich von dem entfernt haben, was Lyrik im Innersten ausmacht und wozu sie überhaupt erfunden wurde!
Es erinnert mich an die "moderne" Klassik: Ab Mitte des 20. Jhdts wurde die Klassik atonal und arhythmisch, erinnert heute eher an Fabrikshallenlärm mit Konzertinstrumenten, betrieben von einer Handvoll völlig abgehobener Durchgeistigter, die Musik auf einem Level zu begreifen scheinen, der uns Normalsterblichen völlig verschlossen bleibt. Dementsprechend fade bis belästigend werden solche modernen Konzerte denn auch empfunden, selbst von jenem Publikum, das sich betont "kulturell bis intellektuell" geben möchte, um sich so über die "Plebs" der Kleingeister zu erheben - auch wenn dieses Publikum es niemals zugeben würde.

Sollen die Herren Sprachexperimentatoren doch weiterkrächzen in ihren Elfenbeintürmen entuferter Hirnwixerei, genau wie die modernen Klassiker und die Konzeptkünstler! Wir schreiben, wie es UNS gefällt, malen die Bilder, die UNS das Herz wärmen, auch wenn wir nie einen Preis dafür bekommen werden (was natürlich nie das Ziel war!).

DAS ist Kunst - die Kunst, am Boden zu bleiben! - "Staying grounded", wie es der Engländer sagt, was es noch besser ausdrückt: Geerdet bleiben!

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
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Alt 29.03.2017, 19:24   #5
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Zitat:
Zitat von Thomas Beitrag anzeigen
....besser, einige Gedanken darauf zu verwenden, was an dem Gedicht insgesamt möglicherweise nicht tief, authentisch und schön genug ist. Vermutlich liegt hier die Ursache, wenn ein an sich passender Reim seine Wirkung nicht entfalten kann. Oft ist der "abgegriffene Reim" nur darum ein Problem. Mit dem Reim ist es eben wie mit einer Münze, der Wert zählt, ob frisch geprägt oder abgegriffen.

Das sehe ich auch so, lieber Thomas,

und ich kenne auch jene Einwürfe von lyrischen Mitstreitern, die die "gängigsten" Reime wie eben Herz - Schmerz aus Prinzip für schlecht befinden und sich daher daran stoßen. Deren Problem, würde ich mal ganz salopp sagen.

Wenn das Gedicht gut gemacht ist und das Reimpaar stimmig ist - warum sollte dann krampfhaft nach einem Ersatz gesucht werden?! Ich verstehe es auch nicht. Wenngleich ich aber sehr wohl verstehe, wenn solche Reime in schlecht gemachten Gedichten bekrittelt werden. Ich denke aber auch, dass diese Kritik dann am eigentlichen Problem des jeweiligen Gedichtes vorbeigeht.

Ich zähle mich persönlich also nicht zu den "Herz-Schmerz-Phobikern", obwohl man dieses Reimpaar wirklich oft ganz grässlich missbraucht findet in so manchen "Lyrik-Versuchen".

Spannendes Thema, das mich auch schon öfter beschäftigt hat. Danke fürs Eröffnen des Fadens.

Lieber Gruß,
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Alt 29.03.2017, 20:18   #6
Kokochanel
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der satirische Spruch ist gut, Thomas GGG
@Erich
ich erinnere mich an das Aufkommen der naiven Kunst, von der meine Tante immer ein großer Fan war. Das Wohnzimmer hing voller Drucke in dem Stil.
Ich habe gedacht: ok, es muss ja nicht unbedingt der röhrende Hirsch sein, aber das muss es nun auch echt nicht sein.
Lach von Koko
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Alt 30.03.2017, 17:28   #7
Thomas
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Liebe Koko und Fee, lieber Erich,

es freut mich sehr, dass ihr euch dies Frage interessiert und ihr euch äußert. Mir ist gerade noch eine weitere Stimme untergekommen, die ich euch zitieren möchte. Hier ist sie:

Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie, wo möglich, alles Drei zugleich.

Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht. – Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berechtigung und wird als toter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und wo möglich körperliche Gestalt gewonnen hat. – An solchen toten Schätzen sind wir überreich.

Die Lyrik insbesondere anlangend, so ist nach meiner Kenntnis unserer Literatur, die Kunst "zu sagen, was ich leide", nur Wenigen, und selbst den Meistern nur in seltenen Augenblicken gegeben. Der Grund ist leicht erkennbar.

Nicht allein, dass die Forderung, den Gehalt in knappe und zutreffende Worte auszuprägen, hier besonders scharf hervortritt, da bei dem geringen Umfange schon ein falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zerstören kann; diese Worte müssen auch durch die "rhythmische" Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser – man gestatte den Ausdruck – zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, dass es unsere Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewusst in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen lässt.

Heine sagt sehr richtig: "Ein Lied ist das Kriterium der Ursprünglichkeit." Die meisten unserer sogenannten Dichter aber sind ihrem eigentlichen Wesen nach Rhetoriker mit mehr oder minder poetischem Anstrich und der lyrischen Kunst so gut wie ganz unmächtig. –

Theodor Storm, Husum, 7. Juni 1870. Aus dem Vorwort seines "Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius".


Vielleicht müssen wir mit unseren Zeitgenossen etwas gnädiger umgehen, wenn wir erkennen, dass das Problem nicht neu ist. Ich finde die Charakterisierung "Rhetoriker mit poetischem Anstrich" so treffend, dass es mich fast wurmt, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Sehr schön finde ich auch: "Diese Worte müssen auch durch die 'rhythmische' Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind", es ist genau das, was ich versuche auszudrücken, wenn ich sage Lyrik müsse "sangbar" sein.

Liebe Grüße
Thomas
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Alt 30.03.2017, 18:10   #8
Erich Kykal
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Hi Thomas!

Meine Rede! Ich versuche immer so zu schreiben! Entscheidend sind Sprachfluss und Wortklangmelodie - es muss schwingen, sich wiegen, tanzen ...

Takt und Sprachmelodie müssen Hand in Hand gehen, und der klangliche Impetus dem Inhalt angemessen sein. Ich nenne es gern "die lyrische Einheit".

Nie darf ein deutlicher moralischer Zeigefinger geschwungen werden, nie darf doziert, belehrt und geschulmeistert werden, noch nicht mal geklugscheißert!

Die Conclusio muss den Leser überraschen, ein Aha-Erlebnis bieten - oder den Text zumindest sinnvoll zusammenfassend und sprachlich elegant abrunden.

Hier einige in meinen Augen wirklich geniale Conclusios von Rilke:


Aus dem Stundenbuch, Teil III

Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit,
und werden wachsen wie des Waldes Beeren
den Boden bergend unter Süßigkeit.

Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrinnt,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.


Letztes Sonett an Orpheus

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
lass dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.


Der Schwan

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen - :

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehen, Flut um Flut;

während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.


Römische Fontäne

Zwei Becken, eins das andere übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.


Der Fremde

Ohne Sorgfalt, was die Nächsten dächten,
die er müde nichtmehr fragen hieß,
ging er wieder fort; verlor, verließ -.
Denn er hing an solchen Reisenächten

anders als an jeder Liebesnacht.
Wunderbare hatte er durchwacht,
die mit starken Sternen überzogen
enge Fernen auseinanderbogen
und sich wandelten wie eine Schlacht;

andre, die mit in den Mond gestreuten
Dörfern, wie mit hingehaltnen Beuten,
sich ergaben, oder durch geschonte
Parke graue Edelsitze zeigten,
die er gerne in dem hingeneigten
Haupte einen Augenblick bewohnte,
tiefer wissend, dass man nirgends bleibt;
und schon sah er bei dem nächsten Biegen
wieder Wege, Brücken, Länder liegen
bis an Städte, die man übertreibt.

Und dies alles immer unbegehrend
hinzulassen, schien ihm mehr als seines
Lebens Lust, Besitz und Ruhm.
Doch auf fremden Plätzen war ihm eines
täglich ausgetretnen Brunnensteines
Mulde manchmal wie ein Eigentum.


Diese letzte ist meine absolute Lieblingsconclusio! Das liest sich in einem durch, findet doch Rhythmus, schmiegt sich erst ins Ohr, dann an die Seele, kitzelt Herz wie Verstand!
In der fast lapidaren Beiläufigkeit der inhaltlichen Aussage kommt so viel zum Tragen, soviel Liebe für's Detail zum Ausdruck: Die geradezu buddhistische Gleichmut, mit der dieser der Heimat fremd Gewordene die Welt bereist und durch ein besitzloses Leben geht, das gerade darum ALLES besitzen kann, was es sieht - auf eine Weise, die sich nur dem Weisen erschließt. Absolut genial!


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Geändert von Erich Kykal (31.03.2017 um 17:30 Uhr)
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Alt 30.03.2017, 19:16   #9
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Ich sehe das etwas differenzierter - vermutlich, weil ich Kunsterziehung studiert habe und seit ich mich auch noch mit Lyrik beschäftige, viele Parallelen zwischen Wort- und Bildkunst sehe. Sowohl in deren Wirkungsweisen als auch den Mitteln und Techniken zu deren Erzeugung.

Ich denke nicht, dass ein Gedicht nur dann "gut" ist, wenn es "sangbar" ist. Und meiner Meinung nach darf sich auch "Poesie mit rhetorischem Anstrich" (oder auch das Umgekehrte) zur Lyrik zählen.
Konzeptkunst ist auch nicht per se "schlecht", weil sie sich dem Betrachter ohne Zusatzinformation nicht komplett oder leicht erschließt. Und wer sagt, dass immer alles "geglättet" und "gefällig" daherkommen muss um zu "berühren". Ja, die Berührung fühlt sich dann definitiv anders an als bei einem lieblichen, runden (vorzugsweise gegenständlichen) Gemälde mit leicht zugänglichem Inhalt (dasselbe gilt für Gedichte, die quasi "geschriebene Gemälde" sind) - aber auch wenn sie mehr im Intellektuellen ankert als im Sentimentalen, ist sie deshalb nicht weniger wertvoll als Berührung.

So wie eben manche eher Kopfmenschen sind und andere ihrem Bauchgefühl den Vorrang geben. Beides ist gleichermaßen richtig und wichtig.
Warum sollte es also deshalb nicht auch Lyrik für beide Rezensenten-Gemüter geben? In der bildenden Kunst klappt das ja auch. Und auch dort halte ich von Vergleichen und versuchten Wertungen wenig.

Schlecht Gemachtes, Kitsch und oberflächliches Gehabe anstatt Gehalt findet man in allen Sparten gleichermaßen. Ebenso wie Gelungenes (und das halte auch ich für eher rar und bin da ebenfalls der Meinung: wenn es vom Künstler nicht gefühlt wurde und dem Ablauf des "Kopf-Herz-Hand" folgt, kann es nicht authentisch sein und daher auch nicht berühren. Und das setze ich gleichermaßen für alle Kunstrichtungen an).

Jegliches Kunstwerk, das hier und jetzt gestaltet wird (ob schriftlich oder bildlich), ist immer ein Spiegel seiner Zeit - oder sollte es sein.
Heute noch einen "waschechten Goethe" rauszuhauen, verleugnet völlig die Zeit, in der wir leben und wird daher immer eigenartig berühren. Egal, wie technisch perfekt es gemacht ist. Die röhrenden Hirsche, in akademischem Stil gemalt, mit Öl und (künstlicher) Krakelüre entlarvt man ja auch eindeutig als irgendwie "unecht", oder? Anders verhält es sich bei den modernen Klassikern - diese heute noch in Anleihen in zeitgenössischen Werken zu finden, zeigt, dass die kulturellen Wurzeln, aus denen jede Stilepoche entwächst, noch weiterwirken. Wer weiß, wie Lyrik im 22. Jahrhundert aussehen wird...
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Alt 31.03.2017, 09:36   #10
Thomas
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Lieber Erich,

mit Freude habe ich die schönen Beispiele deines Lieblingsdichters gelesen. Es ist meiner Meinung nach richtig, was du sagst, wenn man es nicht allein auf Rilke bezieht und nicht verabsolutiert. Das versucht, wie ich es verstehe, auch Fee auszudrücken.

Liebe Fee,

ich stimme dir zu, man darf die Dinge nicht zu eng sehen, und es bringt nichts, sich in die Rolle des Richters zu begeben und bestimmten Dingen den Wert abzusprechen. Mir geht es um Klarheit der Begriffe. Das ist es auch, was mir an Theodor Storms Zitat gefallen hat. Viele gute Dichter haben sich übrigens ähnlich geäußert. Mir fallen z.B. Schillers "Ästhetische Briefe" ein, wo er dem Dichter sagt: "In der schamhaften Stille deines Gemüts erziehe die siegende Wahrheit, stelle sie aus dir heraus in der Schönheit, dass nicht bloß der Gedanke ihr huldige, sondern auch der Sinn ihre Erscheinung liebend ergreife... Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben…"

Wenn die fragst: "Wer weiß, wie Lyrik im 22. Jahrhundert aussehen wird...", dann kann das wohl keiner konkret beantworten. Es gibt meiner Meinung nach trotzdem eine Antwort darauf, und gerade diese ist es, welche mir so am Herzen liegt. Die Antwort ist die gleiche, wie die auf die Frage: "Warum empfinden wir heute noch z.B. eine Jahrhunderte alte chinesische Vase (vielleicht nur eine Scherbe davon) als schön, wieso eine griechische Statue (vielleicht nur den Torso davon) als schön? Es geht um eine zeitlose Qualität, denn wir kennen die Zeitumstände, in denen diese Vase, bzw. diese Statue entstanden ist, nicht mehr, bzw. können sie selbst mit großer Mühe kaum nachvollziehen. Natürlich macht Dichten vor allen Dingen Freude, und man kommt zu nichts, wenn man diese Frage immer nur als Warntafel vor sich her trägt. Aber ganz aus den Augen verlieren, oder gar negieren, darf man diese Frage auch nicht, wenn man etwas einigermaßen Gutes zustande bringen will.

Um jedes Missverständnis auszuschließen: Es geht nicht darum rückwärtsgewandt das Heil in der Nachahmung früherer Künstler zu suchen, sondern sich mit diesen auseinanderzusetzten, um von ihnen zu lernen. Was man dabei lernen kann sind nicht bestimmte Formen und Tricks, es ist das Geheimnis zeitlos Gutes zu schaffen.

Von diesem Standpunkt aus, wird dir hoffentlich das Storm-Zitat etwas verdaulicher erscheinen.

Liebe Grüße
Thomas

P.S.: Auf der "Sangbarkeit" von Lyrik (nicht Dichtung allgemein!) bestehe ich.
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