06.04.2017, 19:51 | #1 |
heimkehrerin
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Stockwerk fünfunddreißig
Er lebt schon seit er denkt in seiner Blase
in Stockwerk fünfunddreißig, Stiege vier, wo mal von links, mal rechts des Baukrans Nase vorüberschwenkt und -gleitet. Vor die Tür geht er schon längst nicht mehr; die vielen Stimmen, sie zerren an ihm, suchen ihn zu biegen. Doch können seinen Turm sie nicht erklimmen! Noch wird er ihrem Drängen nicht erliegen! Einst lebte er mit Mutter hier. Gegangen ist sie von ihm vor ewig dunklen Zeiten. Seitdem ist er in diesem Loch gefangen, versucht er mit Vergessen zu bebreiten die Flure, Winkel, Kammern - Zeitretorten, befüllt mit Tüten, Kisten, Magazinen erschafft er emsig sich an allen Orten. Besuch lässt er nie ein, denn ihre Mienen verstörn, ermahnen, ekeln ihn zu heftig. Die kleine Rente reicht zum Glück zu bannen, was immer ihn zu tief, zu hart, zu kräftig berühren könnte an den alten Schrammen. Den Pizzamann kennt er bereits seit Jahren, Kartons mit Rändern, Flecken, Essensresten - verfeinert über Jahre das Verfahren, mit ihnen all die Mauern seiner Festen mit Mänteln auszukleiden, zu verstärken; In vielen Zimmern kann er nur noch stehen. Und nie ist er zufrieden mit den Werken; es muss noch höher, dichter, sichrer gehen! Allein die Post zu holen ist gefährlich - gottlob bleibt man im Block hier anonym! Er hält sich ohnehin für höchst entbehrlich. Was könnte man schon wollen - grad von ihm?! Stets lebt er im Gefühl, dass nicht geborgen und schutzlos, ohne Sinn in seinem Leben, er vielmehr sitzt als steht. Und dass den Sorgen er nie so recht entkommt in all dem Streben. Stets fühlt er sich nur halb und kann nicht fassen, was er mit aller Macht zu halten sucht. Stets hockt er hier, allein, in all den Massen; vergessen, ungeliebt und wie verflucht. .april_2017
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x x x x x x x x "Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat. Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.” ― Peter Stamm, Agnes Geändert von fee_reloaded (07.04.2017 um 13:57 Uhr) |
07.04.2017, 13:07 | #2 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Liebe Fee,
dein Gediht ist bewegen und sehr gut, finde ich. Die Form passt ausgezeichnet zum Inhalt, man schleppt sich von Enjambement zu Enjambement. Einzig in der letzten Zeile würde ich "und wie" streichen, es schadet nichts, wen ein Jambus hier fehlt. Liebe Grüße Thomas
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© Ralf Schauerhammer Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller |
07.04.2017, 13:21 | #3 |
heimkehrerin
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Danke, lieber Thomas!
Ich weiß; das Gedicht ist kein leichter Stoff - daher freue ich mich umso mehr, dass du mir ein paar Zeilen dazu da lässt und es auch für gut befindest. "Betroffenheitsdichtung" (jetzt im negativen Sinne gemeint) möchte ich definitiv nicht schreiben, sondern eher das Leiden dahinter beleuchten und die Mechanismen in den Köpfen der Menschen, die so gefangen sind - also habe ich es als eine Gratwanderung empfunden, hier nicht in die Tragik-Schiene abzugleiten (was nur zu leicht passieren kann). Ich wollte dieses zähe Einerlei der ewiggleichen Tage auch sprachlich ausdrücken. Und freu mich, dass du das gespürt hast. Das "und wie" möchte ich behalten - denn ich habe - um der Symmetrie willen - auch am Anfang der ersten Strophe einen Wechsel von weiblicher und männlicher Kadenz. Das wollte ich so auch wieder abschließen. Das Motiv hinter deinem Vorschlag aber finde ich gut. Vielleicht passt es ja mal für eine andere Gelegenheit. Ich bin ja sonst auch eher für radikales Einkürzen und Brüche, wie du weißt. Danke und lieber Gruß, fee
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x x x x x x x x "Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat. Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.” ― Peter Stamm, Agnes |
07.04.2017, 13:33 | #4 | |
ADäquat
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Liebe fee,
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07.04.2017, 14:04 | #5 | |
heimkehrerin
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Zitat:
Solche Menschen müssen bereit sein etwas grundlegend verändern zu wollen, um Hilfe (therapeutische vor allem) annehmen zu können. Dazu muss aber zuvor der Leidensdruck so groß werden, dass er den momentanen Leidensgewinn (nämlich die Vermeidung angstmachender Faktoren und Umstände) erkennbar überwiegt. Das dauert meist Jahre, manchmal auch ein Leben lang. Vor etlichen Jahren gab es mal im TV so eine Zeit, da sich das Fernsehpublikum an den Lebensumständen der "Messies" erregt grusel-grausen durfte. Dass die Menschen, die da vorgeführt wurden (unter dem Vorwand, Hilfe zu erfahren - wie auch immer das in Form eines TV-Formats möglich sein soll), massiv leiden, wurde nicht wirklich gezeigt. Das blieb alles schön an der Oberfläche der Voyeuristik und hat mich damals sehr erschüttert und empört. Hat sich auch nicht lange gehalten, das Format (was mir den Glauben in die Menschlichkeit dann doch zum Teil wiedergegeben hat). Und ja - das "h" hab ich glatt verloren. Danke für den Hinweis! Danke dir für den schönen Kommentar zu diesem Stückchen "schwerer Kost". Lieber Gruß, fee
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x x x x x x x x "Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat. Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.” ― Peter Stamm, Agnes |
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07.04.2017, 14:07 | #6 |
Gast
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Hallo Fee,
das Gedicht hinterlässt mich sehr berührt und nachdenklich. Zwischen Verlust, Einsamkeit, Ängsten und Alleine-Sein, schimmert keinerlei Hoffnung. Dieses Gedicht ermahnt auch. Ertrunken in der Anonymität der Großstadt, des Blocks. Ganz besonders gefällt mir: "versucht er mit Vergessen zu bebreiten" Und das: Stets hockt er hier, allein, in all den Massen; vergessen, ungeliebt und wie verflucht. vlg EV |
07.04.2017, 15:28 | #7 |
heimkehrerin
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Ja, der Fluch der Großstadt mit ihrer Anonymität, lieber Eisenvorhang....
der ist nicht zu verleugnen. Es gibt aber auch viele Fälle, wo Menschen in ihren geerbten Einfamilienhäusern am Dorfrand derart festsitzen und sich einbunkern. Dort ist das dann halt das Haus, wo der/die schrullige Alte wohnt... Du erwähnst außerdem den Verlust. Den halte ich für einen der Hauptauslöser solchen krankhaften Verhaltens und vor allem Festhaltens. Verlust des Arbeitsplatzes und damit auch des Ansehens und der Einbindung in die Gesellschaft, der Verlust einer nahestehenden Person (also unbewältigte Trauer), der Verlust von Kontrolle,... es gibt viele Möglichkeiten, die den Beginn dieser Abwärtsspirale einläuten. Und immer wurde diese Entwicklung nicht aufgehalten, weil keiner da war um genau hinzusehen und/oder zu helfen. Das geschieht ja schleichend. Die heutige Gesellschaft ermöglicht die Abkapselung Betroffener leider auch viel zu sehr. Man braucht nicht einmal mehr zum Einkaufen vor die Tür. Ich finde diesen Trend bedenklich. Und sehe das Phänomen der Messies als ein Zeichen unserer Zeit. Danke für die aufmerksamen Zeilen! Lieber Gruß, fee
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x x x x x x x x "Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat. Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.” ― Peter Stamm, Agnes |
07.04.2017, 15:58 | #8 |
Gast
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Worin ich auch ein Problem sehe, ist die schnelle Information und die Anpassung unseres Gehirns. Als Folge droht eine erhöhte Sensibilität respektive Hochsensibilität - dann unliebsame Erfahrungen, ein turbulentes und destruktives Elternhaus und der Lebenslauf ist nahezu schon perfekt verkackt.
Mir fallen auch keinerlei Lösungen diesbezüglich ein. Wenn ich mir vorstelle: ein Mensch, der sozial veranlagt ist und alles verliert und keinen Einstieg mehr findet. Das muss die Hölle auf Erden sein. Wer allerdings nicht viel Wert auf soziale Nähe gibt und Autonomität lebt, hat unter diesen Umständen - unter Umständen - nicht so viel zu leiden. Ich selbst lebte schon an unterschiedlichen Orten. Mal im Dorf, mal in der Stadt, dann in der Kleinstadt, dann wieder Stadt, dann Dorf etc... Und ich finde, dass Großstädte in ihrem Kern für die geistige Gesundheit eines Menschens nicht gut sind. Leider nimmt die Urbanisierung keine Rücksicht darauf und die Information ballt sich immer mehr in Hirnen, die nicht in der Lage sind, diese Information verarbeiten zu können. Ein unliebsamer Trend. vlg EV Geändert von Eisenvorhang (07.04.2017 um 16:24 Uhr) |
07.04.2017, 22:15 | #9 |
Slawische Seele
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Beiträge: 5.637
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Liebe fee,
ein beeindruckendes Gedicht - nicht weniger die Besprechung. Ich denke in diese "Isolation" sind Menschen schon immer hineingeraten. Du beschreibst sehr eingehend die Situation des Protagonisten, fügst hier und da einen Grund ein - doch seine "Verlorenheit" bleibt erhalten. Ein Gesellschaftsproblem ergibt sich erst in der Diskussion. Das Werk selbst prangert nicht an, es zeigt auf. Um in dieser "Isolation" zu "vegetieren", muss man nicht unbedingt im fünfunddreißigsten Stockwerk wohnen. Ein Haus am Dorfrand oder ein Mietsblock mit nur 5-10 Wohnungen sind ebenso denkbar. (Was Du in einer Antwort bereits gesagt hast.) Ich möchte auf keinen Fall "die Gesellschaft" anprangern. Diese "Unbereitschaft", genauer hinzuschauen, zu fragen, hat sich irgendwie von selbst ergeben. Man ist meist mit sich selbst und mit Problemen so ausgelastet, dass man sich fast fürchtet, sich auf etwas anderes einzulassen. Vielleicht werden wir von der "Hatz" der Zeit überrollt. Erst wenn man Betroffene kennt, weil sie einem nahe stehen, beginnt man nach Verständnis zu suchen. Ein gutes Beispiel dafür sind Depressionen. Noch gar nicht lange her, wo man die Betroffenen "belächelt" hat, weil sie nichts Greifbares vorweisen konnten. Ebenso die Vorführung von Messis in den Medien. Es hat einen Unterhaltungscharakter und zielt auf Einschaltqouten, was ich ekelhaft finde. Überhaupt die "Vorführung" von angeblichen "Asis" usw. Ein entsprechendes Gegenteil zeigt sich wiederun in öffentlicher Hilfsbereitschaft, z.B. bei Spendenaufrufen, friedlichen Demos, Lichterketten, Blumenbergen zur Trauerbekundung und nicht zuletzt in der Flüchtlingsfrage. Darin ist eine "Leichtigkeit" verborgen. Man will gut handeln, gut sein und anschließend ist man wieder "frei". Bitte nicht falsch verstehen. Ich kritisiere nicht die Handlungen als solche. Die Bereitschaft sich auf Einzelne einzulassen beinhaltet eine "Bremse". Man ist zu sehr Mensch und weiß, dass man da mit jener "Leichtigkeit" nicht mehr herauskommt. Darin steckt eine zu große Verantwortung. Darin können sich Dinge entwickeln, die man nicht ahnen konnte. Trotzdem, Dein Gedicht fordert auf, sich zumindest von Vorurteilen zu befreien. Die Betroffenen schreien direkt nach Hilfe in ihrer Zurückgezogenheit. Nicht jede Hilfe muss von "Erfolg" gekrönt sein. Von diesem Zwang muss man sich vorab befreien. Dem Betroffenen hilft oft schon ein Interesse an ihm überhaupt. Wenn aber viele bereiter wären, dann könnte es einem von den vielen gelingen. (Habe mich schon lange nicht mehr zu einem längeren Kommentar hinreißen lassen. Dein Gedicht hat mich berührt und beschäftigt.) Liebe Grüße Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben. (Frederike Frei) |
08.04.2017, 10:42 | #10 |
Gast
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Liebe Fee,
Schon gestern habe ich deine ausdrucksstarken Worte gelesen. Sie zeigen ein Leben am Rande der Gesellschaft auf. Der alte Mann versucht so zu überleben, wie er es kann. Du klagst nicht die Gesellschaft an, kein erhobener Zeigefinger. Das finde ich gut. Hier in Deutschland wird es mehr und mehr alte Menschen geben die so oder ähnlich überleben, sprich: Demographischer Wandel. Ein Beispiel, wie man ihnen begegnet hast du hier aufgezeigt. Die langen Zeilen geben Zeit zum Mitdenken, während innerlich ein Bild der Wohnung und der Lebenssituation entsteht. Es liest sich durchgängig flüssig. Ich mag solche Themen sehr gerne, wenn sie nicht zu rührselig oder zu moralisch sind. Das ist hier in keinster Weise geschehen! Liebe Grüße sy |
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