04.07.2017, 18:34 | #1 |
heimkehrerin
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Familienerbe
Die Scherben
fein säuberlich aufgekehrt nur winzigste Splitter in den Fugen der Dielen (wo der Bartwisch nicht hinkommt) eingetreten beim arglosen barfuß Darüberlaufen nahezu unsichtbar in meinen Sohlen und ungreifbar stecken sie um beim Auftreten in bestimmten Winkeln ohne Vorwarnung zu stechen Ich kann hier nicht länger stehenbleiben nur um nicht mehr zu fühlen .Juli_2017
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x x x x x x x x "Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat. Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.” ― Peter Stamm, Agnes |
05.07.2017, 09:14 | #2 |
Gast
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ja, liebe fee, es sind nicht immer die großen Scherben, die weh tun. Es sind vor allem die versteckten, kleinen Splitter, die nicht fortgeräumt wurden und deshalb immer wieder stechen.
LG von Koko |
05.07.2017, 10:29 | #3 |
ADäquat
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Liebe fee,
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05.07.2017, 11:14 | #4 |
heimkehrerin
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Ich danke euch beiden recht herzlich für die verständnisvollen Worte, liebe Koko, liebe Chavali!
Sie sagen mir, dass euch diese Thematik nicht unbekannt und auch nicht egal ist. Das Bewusstsein für die oft belastenden Spätfolgen von Familien-Tabus und des Schweigens in und zwischen den Generationen wächst erst langsam und seit kurzem. Begriffe wie "Kriegskinder" und "Kriegsenkel" sind noch relativ jung in der Psychologie, gewinnen aber stetig an Gewicht und Bedeutung. Ebenso wie die Tatsache, dass die Folgen von Kriegstraumata auch auf genetischer Ebene in die Generationen danach "mitgeschleppt" werden, wenn diese nicht aufgearbeitet werden. Ein höchst spannendes aber auch sehr aufwühlendes Thema. Daher nochmal meinen besonderen Dank für eure bedachten Kommentare. Lieber Gruß, fee
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05.07.2017, 11:47 | #5 |
Gast
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was du ja meinst, liebe Fee, sind regelrechte Traumata, die "verlorene Generation", die Krieg, Flucht und Verlust hinnehmen musste. Gewalt/Angst war alltäglich. Manche haben auch Traumata von häuslicher Gewalt , die 50 iger Kinder, deren Eltern und Großeltern vielleicht ebenfalls traumatisiert waren.
Ich kenne es aus meiner Familie nicht, wohl aber aus der Schwiegerfamilie. Es ist ein großes Thema, das viel zu lange verschwiegen und nicht aufgearbeitet wurde. Dazu müssten die Betroffenen aber reden und da das mit viel Leid und Preisgabe von Intimem verbunden ist, wird dies wohl schwierig werden. LG von Koko |
05.07.2017, 12:39 | #6 | |
heimkehrerin
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Zitat:
Die "verlorene Generation" - ja. Meine Mutter hat - wie ich aus den spärlichen Andeutungen einer Tante zusammenbasteln konnte - wohl in ihrer ganz frühen Kindheit ein schweres Kriegstrauma davongetragen (ich vermute - kann nur vermuten - durch die heftigen Bombenangriffe und den Hunger zu der Zeit). Jedenfalls hat sie im Alter von drei Jahren irgendwann einfach aufgehört, aktiv am Leben teilzunehmen. Lag nur noch im Bett, sprach nicht, aß nicht, bewegte sich nicht, reagierte nicht. Die Familie musste sie anziehen, füttern, aus dem Bett hieven und durch die Gegend "schleifen" - laut Anweisung des Arztes "im Leben halten". Darüber, wie auch über irgendetwas anderes aus der Zeit, wurde nie und von niemandem gesprochen. Meine Schwester und ich wurden - ohne Worte, nur durch entsprechende Reaktionen - dazu erzogen, nie zu fragen. Und ich gehe davon aus, dass das eine verbreitete Situation war. Was da "ausgeschwiegen wurde"...viel Entsetzen, Leid, vielleicht auch Schuld, inmitten ganz viel Leids, Hunger und Todes in der unmittelbaren Umgebung noch relativ unbeschadet davongekommen zu sein. Alles eine schwere Bürde, die durch das Verdrängen über die Jahre nur an Gewicht gewinnt. Für mich als Kriegsenkel schmerzt das Fehlen einer Familiengeschichte, das Fehlen jeglichen "Bodens" unter den Füßen. Das Nicht-Wissen um die Menschen in meiner Familie und ihre persönlichen Schicksale. Sie haben alle funktioniert, waren durchaus liebevoll - aber nie richtig lebendig. Verloren eben. Es ist gut, dass es jetzt endlich Thema werden darf und kann. Lieber Gruß, fee
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05.07.2017, 12:48 | #7 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Liebe fee,
vielleicht könnte man bei "barfuß Darüberlaufen" das "Darüber" weglassen und zweitens das "um zu... stechen" vermeiden, weil die Splitter nicht aktiv sind und dadurch auch das wichtige "um" in der Schlussstrophe mehr Bedeutung erhielte. Insgesamt finde ich die Form gut und passend. Liebe Grüße Thomas
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© Ralf Schauerhammer Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller |
05.07.2017, 13:14 | #8 | |
heimkehrerin
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Zitat:
Danke, lieber Thomas! Es ist m.E. eben ein Irrglaube, anzunehmen, dass (vor allem) diese Splitter nicht aktiv sind. Die, die man sich als Kind beim Darüberlaufen (=das Thema unbewusst "aktivierend" und damit die Familie in ihrer unbewussten aber heftigen Abwehr auf den Plan zu rufen) nicht nur ein- sondern irgendwie auch zugezogen hat....wenn du verstehst, was ich meine. Danke für den Rat mit dem "um zu"...das schaue ich mir in Ruhe nochmal genauer an. "stecken sie stechen beim Auftreten in bestimmten Winkeln ohne Vorwarnung" könnte ich mir vorstellen (muss das aber noch "befühlen"). So gesetzt, sperrt sich für mich etwas beim Lesen. Lieber Gruß, fee
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06.07.2017, 10:09 | #9 |
Gast
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Ja, das ist eine sehr schwierige Situation, zumal sie irgendwann nicht mehr geändert werden kann, wenn die alten Menschen wegsterben.
Meine Oma, die zwei Weltkriege erlebt hat, im ersten ihre Brüder, im zweiten ihren Mann verloren hat, hat immer viel und gerne davon erzählt.Meine Mutter, die das Nachkriegsleid mit all den Entbehrungen erfahren musste, wollte das nie hören, ich als Enkelin jedoch schon. Vielleicht war das Leid meiner Mutter selbst so groß, dass sie das andere nicht ertragen konnte. ich habe darüber nie nachgedacht, dein Gedicht jetzt und die Diskussion dazu, machen mich nachdenklich. Ich habe es meiner Mutter immer als Empathielosigleit angekreidet, konnte es nie verstehen. Das Verhältnis meiner Mutter zu meiner Oma war um ein Vielfaches schlechter als meines zu meiner Oma, obwohl es nie Gewalt gab. Aber viel Verangtwortung, die meine Mutter als Zehnjährige für den Babybruder, der seinen Vater nie kennenlernte, übernehmen musste. Dass sie ein Trauma haben könnte, daran habe ich nicht gedacht. Jetzt denke ich, vielleicht war das so... Ja, schwierig, das alles. Darum ist wohl das wichtigste Gut im Leben Frieden. LG von Koko |
06.07.2017, 12:31 | #10 |
Gast
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Liebe fee,
Dein Gedicht muß genau gelesen werden, das heißt nicht, das ich andere Gedichte nicht genau lese. Nein der Aufbau fordert durch seine Umbrüche dazu auf. Es ist unbequem. Ich bin ja auch eine Reimerin und automatisch will mein Denken in eine harmonische Schiene, einen Singsang haben. Das Eingeklammerte bedeutet wohl „ Feudel“. In den Fugen der Generationen ruhen viele Scherben. Besonders die Kriegsgeneration konnte nicht alle Rillen und Tiefen von den Altlasten befreien. Manchmal reicht ein Menschenleben einfach nicht aus. Und in den folgenden Generationen sind noch die Narben der Älteren zu erkennen. Die Menschen, die Traumatisches erlebt haben, verstecken oft ein Lebensland die Schreckensbilder vor sich selbst, weil sie es nicht ertragen können, und geben unbewußt ihre Eindrücke an die Kinder und Kindeskinder weiter. Bei manchem Menschen bröckeln die Barrieren im Gehirn, wenn sie alt geworden sind, und es kommen grauenhafte Geschichten zu Tage. Flucht, Bomben, Terror und und und... Selbst im Alter hilft es dann noch mit jemandem darüber zu reden. Jedes Wort, das geteilt wird, jeder Schrecken wird zum halben Schrecken. Dein Gedicht lässt innehalten durch die Form und den Inhalt. Auch wenn oder weil es so ist sehr gerne gelesen. Liebe Grüße sy |
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