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Stammtisch Gesellschaft, Politik und Alltag

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Alt 25.10.2009, 21:03   #1
Blaugold
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 23.02.2009
Ort: BadenWürttemberg
Beiträge: 526
Standard Zwei kleine Schlangen unterm Ohr

Heut hab ich meinen Opa wieder mal
besucht; hab es schon lang nicht mehr gewagt.
Beim letzten Mal hat er mich fast erkannt.
Begrüßte mich mit einem Hackenschlag
und salutierte stramm. Dann fiel er um.

Die Ärzte kamen gleich ins Krankenzimmer,
sie hievten ihn sofort ins Bett zurück.
Kaum machte er die Augen wieder auf
erschrak er, mich zu sehn, und wurde bleich.
Ich dachte, du seist tot, hat er gesagt.

Ich mühte mich dann zehn Minuten ab,
erklärte ihm, dass ich sein Enkel bin.
Er schüttelte den Kopf und knurrte laut,
an Engel habe er niemals geglaubt.
Ich lächelte ihn an und nickte nur.

Dann saßen wir beisammen, schwiegen. Still.
Die Abendsonne schien in sein Gesicht.
Die tiefen Furchen und sein matter Blick
erzählten von der Last aus alter Zeit.
Er trug sie jahrelang und ganz allein.

Ein Schweigen in großelternlichem Haus,
vergrämt, hab ich als Kind schon dort erlebt.
Ich spielte gern mit diesem schwarzen Kreuz,
das schwer an einer Silberkette hing
und er mir aus der kleinen Schachtel gab.

Ich weiß noch, wie er mich bei Schnee und Eis
herauszog aus dem zugefrornen See,
in den ich einbrach. Oder an die Nacht
danach, als ich vor Angst nicht schlafen konnte.
und er mit mir den Schutzengel dann bat,

mich zukünftig zu schützen. Ich schlief fest!
Zu Opa hatte ich Vertrauen, doch.
Obwohl er nie erklärte, was das sei:
Die beiden kleinen Schlangen unterm Ohr,
die ich beguckte, wenn er mich mal trug.

So stand ich heute erstmals an dem Grab.
Ich denk an seinen Kampf, den er im Geist,
seit Jahren mit sich führte. Ganz allein.
Ich glaube heut nicht mehr an Engel, nein.
Doch Opa hatte sie nicht mal als Kind.
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Alt 25.10.2009, 21:53   #2
Lisa
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 20.06.2009
Ort: Österreich
Beiträge: 242
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Berührt mich sehr.

Meine Mutter ( 85) kämpft derzeit einen sehr einsamen Kampf ( obwohl sich viele Familienmitglieder sehr um sie bemühen). Doch nicht immer erkennt sie die
Menschen , die sie umgeben. Ihre Gefühle und Gedanken - vom Langzeitgedächtnis hervorgeholt - reichen weit, weit zurück in ihre Kindheit, in der auch sie keinen einzigen barmherzigen Engel finden konnte..

Wie gesagt, dein Gedicht berürt mich sehr. Gerne gelesen. Liebe Grüße Lisa
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Alt 26.10.2009, 20:23   #3
Panzerknacker
Mal lachend - mal traurig
 
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Ort: Da wo Napoleon noch nie kämpfte
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Hallo Blaugold,

wenn ich vom Kampf deines Opas lese, den er ja nicht gewinnen konnte, dann fallen mir die vielen Geschichten ein die meine Frau, der Krümel, immer erzählt. Sie arbeitet bei einer Kath. Sozialstation als Krankenschwester. Genau so hast du den letzten Kampf deines Opas beschrieben. Er ging mir sehr zu Herzen.

Der Knacki schickt nachdenkliche Grüße
__________________
Ich bin ein Niemand.
Niemand ist perfekt.
Also bin ich perfekt.
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Alt 27.10.2009, 19:35   #4
Blaugold
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo Lisa, hallo Knacki

Natürlich ist diese Story fiktiv, das Lyrische Ich erinnrt sich und sinniert über die Erfahrungen mit dem Opa. Opa focht einen ganz besonderen Kampf mit seinen alten Dämonen aus. Der Verlust von manchen Erinnerungen und eine gewisse geistige Verwirrung geht allgemein mit dem Alter einher.
Ein Urteil über das Leben des alten Mannes zu sprechen fällt dem Enkel nicht leicht; ob er zwischenzeitlich wohl weiss, was es mit dem schwarzen Kreuz und den kleinen (tätowierten) Schlangen* auf sich hat? Ich denke, ja, denn am Grab stehend, denkt LI an den inneren Kampf seines Großvaters.

*Das sind die tieferliegenden eigentlichen Sinngeber dieses Gedichtes!


Ich danke euch für eure Kommentare.


Blaugold
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Alt 27.10.2009, 22:49   #5
Dana
Slawische Seele
 
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Lieber Blaugold,
ich glaube der Enkel will mehr erzählen. Die Bilder von einst und heute bergen Opas Schicksal und seine Vergangenheit. Die Symbole (schwarzes Kreuz und Schalngentätowierung) bedeuten.
In deinem Gedicht ist es ein Opa, zu dem der Enkel Vertrauen hatte. Ein liebender und guter Opa. der im Alter und in geistiger Verwirrung unausgesprochene Ängste, Tatsachen im verwirrten Geiste verarbeitete.
Niemand versteht und erkennt Zusammenhänge - oder doch?
Es wurde niemals darüber gesprochen.

Zitat:
Zitat von Blaugold
Ein Schweigen in großelternlichem Haus,
vergrämt, hab ich als Kind schon dort erlebt.
Ich spielte gern mit diesem schwarzen Kreuz,
das schwer an einer Silberkette hing
und er mir aus der kleinen Schachtel gab.
Ein gut erzähltes Gedicht, das berührt und betroffen macht.

Liebe Grüße
Dana
__________________
Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
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Alt 30.10.2009, 19:06   #6
Blaugold
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo Dana

Ja, in der Familie wurde wahrscheinlich nie darüber gesprochen, die Vergangenheit eher verschweigend unterdrückt. Ich denke, dass der Enkel gegenwärtig weiss, was seinen Opa in Gedanken nie zur Ruhe kommen ließ, aber auch er lässt (als LI) eine genaue Erklärung offen.
Leider hast du in deinem Kommentar deinen 3. Satz nicht zu Ende geschrieben, er steht irgendwie verkrüppelt:
Die Symbole (schwarzes Kreuz und Schlangentätowierung) bedeuten.
aber vielleicht wolltest du deine Interpretation darlegen, für Kreuz und Schlangen?
Die Symbole haben nichts mit Glauben oder Religion zu tun. Der Großvater hatte an seinem Hals ein SS -Zeichen! (für ein Kind sind das wie zwei kleine Schlangen). das schwarze Kreuz ist eine militärisches Symbol.
Ich habe das Gedicht u.a. weder mit Zustimmung noch mit Anklage für den Großvater ausgestattet, und auch der Enkel urteilt über ihn nicht. Der Enkel hat nur Erfahrungen mit ihm als liebevollen Großvater.
Den Großvater konnte kein Schutzengel vor der harten Zeit nach dem 1. Weltkrieg und die Propaganda des 3.Reiches bewahren. Möglicherweise hatte er weder Vater, noch Großvater mehr, die mit ihm die Zeit bewältigen. Wer weiß schon, was die Menschen damals alles durchgemacht haben.

Das Gedicht soll schon betroffen machen, wie du kommentierst, vielleicht mal mit gänzlich anderen Aspekten über den heutigen Umgang mit Tätern nicht nur des 3. Reiches, die man dazu erzogen hat. Denke nur an die Kindersoldaten der Gegenwart.

Ich danke dir für deinen Kommentar zum Gedicht.


Blaugold
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Alt 31.10.2009, 23:48   #7
Dana
Slawische Seele
 
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Lieber Blaugold,
Entschuldigung. Als ich auf die Symbole zu "schreiben" kam, hatte ich mich per Google so in das Thema vertieft, dass ich nur gedacht habe, es aber nicht ausschrieb.

Das geht schon aus dem Text hervor, dass hier das Gegenteil von Anklage und Religion betont werden soll. Die Symbole "deuten" an und lassen nachdenken. Der Text ruft Betroffenheit aus, weil Großeltern, Eltern und Kinder (aufgrund der Gegebenheiten und Zeiten in denen sie leben und aufwachsen) oft keine Chance haben, mit ganzem Herzen und frei für ihre Liebsten da zu sein - es aber dennoch tun und eigene Betroffenheiten unausgesprochen lassen.
Dein lyr.Enkel liebt seinen Großvater und wird vom Großvater geliebt. Ob man dasselbe vom Großvater sagen kann, der auch Sohn und Enkel gewesen ist, bleibt offen.

Liebe Grüße
Dana
__________________
Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
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Alt 21.12.2009, 17:02   #8
Leier
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Lieber Blaugold,


da ich die Schlangen sofort erkannte, wollte ich ursprünglich nicht kommentieren.
Eigentlich wollte ich auch nicht betonen, daß SS-Leute erst dann, wenn es ihnen selbst an den Kragen geht (Prozeß - und dann noch nicht!) oder im Alter (selbst dann nicht oft!)
so etwas Ähnliches wie ein schlechtes Gewissen verspüren.
Dann stehen Gespenster - nicht Enkel! - wieder auf. Schreien unter Marter oder Todesschuß. Da gibts keine Engel.
Jahrelang allein getragne Last?
Bei einem unter Tausenden.

Daß Enkel dem oft ratlos gegenüberstehen - ja.
Wäre Dein Gedicht nicht so gut formuliert, ginge es nicht so tief.


Lieben Gruß
von
cyparis
Leier ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.12.2009, 00:20   #9
Blaugold
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Hallo Leier
Natürlich ist ein ehemaliger SS-Verbrecher durch nichts von der Verantwortung und Konsequenz, sprich Strafe, zu entschuldigen. Und doch wage ich die Frage: Was ist bei der Verfolgung, Ächtung und Bestrafung nicht nur Rache (Revenge)?
Rache ist ein aus dem Gefühl des Schmerzes und Leides für erlittenes Unrecht geborener Machtanspruch (Grössenwahn) über das Leben des Täters. Sogar mit der Überzeugung, das sei im Sinne von Gott oder ähnlichen mystischen Mächten!

Eine Konsequenz aus dem unrechten Handeln des Täters ist seine Verurteilung, weil er juristische oder moralischen Grundsätze überschritten hat, das Gesetz gebrochen hat. Eine Beurteilung dieses Komplexes ist nur ohne den Komplex der Rache, siehe oben, und im möglichsten Maße der Objektivität gerecht.

Ich denke, ich verstehe deine kommentierte Meinung dazu. Reue ist eben aufgrund von Nicht-Einsicht oder durch Verleugnung des Unrechtshandelns in vielen Tätern nicht möglich. Aber nicht nur bei SS-Schergen, auch bei Terroristen z.B. oder anderen Verbrechern.
Wieder frage ich: Was aber haben Opfer von der späten Reue von Tätern? Genugtuung? Ist diese so viel anders, als Rache? Könnte es nicht sein, dass Opfer (oder wir, die wir mit Opfern des 3. Reiches solidarisch sind) Macht über den Täter erringen wollen, zumindest in dem Sinn, dass er tun soll, was wir erwarten, nämlich Reue zeigen?) Ein Mord wird meiner Ansicht nach nicht geringer von Schuld, wenn er bereut wird. Nicht umsonst ist es so, dass Reue immer zu spät kommt. Anstatt Reue wäre meiner Ansicht nach Einsicht in das Handeln vor der Tat eine religiöse Sinnhaftigkeit.
Was kümmern uns die seelischen Verkrüppelungen der Mörder? Kümmern sie uns etwa nicht?

Hier setzt eine Ebene meines Gedichtes ein. Der Enkel ist die Hauptfigur, nicht der alte Nazi! Der Enkel hat den Opa nicht als Mörder erlebt, Im Gegenteil. Der hat dem Enkel als es noch Kind war, wohl das Leben gerettet, als es in den See brach. Der "Alte Nazi" war ein liebevoller Großvater in der Welt seines Enkels.
Eine andere Ebene ist die Sache mit dem Schutzengel. Der Opa hat ihn an den Enkel quasi vermittelt, mit dem Bub um Hilfe gebetet.

Der nun ältere Enkel beginnt die Bedeutung der zwei kleinen Schlangen vermutlich zu verstehen. Er bedauert, dass das, an was der Großvater geglaubt hat, wie er selbst an die schützende Kraft eines Engels, eher ein Anti-Engel war: Ein Glaube an eine grössenwahnsinnige Welt.
Es gab für den Großvater keinen liebenden Großvater, der mit ihm Ängste teilte.
Großvater hat in Altersumnachtung sogar noch grössere Angst als je: Dass der letzte Richter ein Diktator ist. Deshalb salutierte er untertänigst!

Insofern bejahe ich deine Zeile
Zitat:
Dann stehen Gespenster - nicht Enkel! - wieder auf. Schreien unter Marter oder Todesschuß. Da gibts keine Engel.
Jahrelang allein getragne Last?


Jahrelang allein getragene Last, doch.
Und zum dritten mal frage ich unschuldig: Wenn Schutzengel* weder Opfer schützen noch Menschen davor, Täter zu werden, was berechtigt dann der Glaube an sie?

*im übertragenen Sinn


Aber es freut mich, mit dir in dieser Weise ein klein wenig zu philosophieren und zu diskutieren
und dass du mein Gedicht gut formuliert und tiefgehend findest.


Blaugold
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