23.12.2009, 22:13 | #1 |
gesperrte Senorissima
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Flucht
"Marjellchen! Un Marie" rief Tante Anna.
"Auf de Waachen! De Russen sin janz nah! Futterchen für de Ferdchen nich vajassen?" Jupp hatte alles gerichtet. Die dicksten Federbetten auf den Wagen geschichtet: Marie war kurzatmig, hochschwanger. Alles auf zur Kurischen Nehrung, da sollte noch ein Fluchtweg über die See offen sein. Ein Rennen, ein Hasten, schier kopflos. Alles in eine Richtung: Nur weg vom Osten! Den zwei bedauernswerten Gäulen schob der Schaum von den Nüstern. Nicht zu beschreiben: Übergang der kurischen Nehrung. Schreie. Sterbende Kinder, Mütter, Alte, Flüchtende, hilflos fluchende greisige Männer. Rettendes Ufer: erreicht. Gerade noch. Jupp das überlebende Pferd an der Mähne haltend. Weiter! Weiter! Tante Anna nur noch keuchend, mehr tot als lebendig. Schnee. Frost. Kein trocknes Holz. Keine Steichhölzer. Alles von Flüchtlingen belagert, kein Durchkommen. Weiter mit dem armen Gaul. In der Dunkelheit: Ein Schatten. Eine Scheuer, noch unentdeckt. Jupp, am Ende seiner Kräfte, stößt das Tor auf. Trägt Marie hinein, die in Wehen liegt und nur noch schreit. Jupp stiehlt Rüben und Stroh. Mariechen, das Marjellchen, stillt, vor Kälte zitternd, ihr Neugebornes. Es zu taufen fand sich kein Pastor. Geändert von Leier (26.12.2009 um 19:20 Uhr) |
26.12.2009, 15:42 | #2 |
Gast
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Ahoi cyparis,
deine Zeilen über die Flucht aus dem Osten wirken auf mich authentisch. Genauso haben die Leute aus Ostpreußen damals gesprochen, genauso empfanden sie bestimmt damals die Flucht. Auf der Flucht, nur fort, fort von der Heimat, in eine ungewisse Zukunft. Für Gemütlichkeit war da kein Platz. Allein die praktischen Dinge zählten: Die wenigen Habseligkeiten mussten gerettet werden. Es gab viel zu tun, und alles musste selbst getan werden. Es wurde nur das Nötigste gesprochen. Die Flüchtlingskinder haben damals sehr wenig Liebe erfahren. Ich bin selbst ein Flüchtlingskind, doch Dank der Gnade meiner späten Geburt hatte ich es leichter. Meine Eltern flohen 1955 mit Jenny-Baby aus Sachsen, wo mein Vater politisch angeeckt war, nach Berlin. Wir wurden erst im Lager Marienfelde untergebracht und dann nach Bayern verschickt, wo mein Vater gleich Arbeit fand. Ich hatte es viel leichter als die Flüchtlingskinder aus den Nachkriegsjahren, doch war bei uns immer das Geld knapp, und meine schöne Mutter, die es aus Elb-Florenz in die Provinz verschlagen hatte, begann zu trinken. Ohne Wurzeln fühlte ich mich eigentlich immer, doch das war eigentlich ein Vorteil: Ich konnte viele Städte meine Heimat nennen und bin schließlich wieder in meiner Wahlheimat Berlin angekommen. Lieben Gruß Seeräuber-Jenny Geändert von Seeräuber-Jenny (26.12.2009 um 23:15 Uhr) |
27.12.2009, 12:05 | #3 |
gesperrte Senorissima
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Liebe Seeräuber-Jenny,
man darf gar nicht daran denken, wie wenige der Massen ein rettendes Ziel erreichten. Der große Flüchtlingstreck zahlte einen schrecklichen Blutzoll. Daß die meisten derer, die sich retten konnten, bei uns nicht wollkommen waren, tut ein Übriges dazu. Bedrückende Vergangenheit. Und trotzdem: Neues Leben. Lieben Gruß von cyparis |
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