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Minimallyrik und Aphorismen Alles was kurz und schmerzlos ist

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Alt 19.09.2011, 23:05   #1
Stimme der Zeit
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Standard Abgestanden

.
Abgestanden

Ein alter Mann sitzt im Lokal,
hat zur Gesellschaft nur ein Bier.
Vielleicht ist er auch gar nicht hier.
Ganz unbemerkt ist er total
in die Erinnerung versunken.
Das Bier bleibt stehen. Ungetrunken
verfliegt der Schaum und es wird schal.

Ein letztes Bier - zum letzten Mal.
.

Nach Faldis Anmerkung als Variante:
.
Abgestanden

Der alte Mann sitzt im Lokal,
hat zur Gesellschaft nur ein Bier.
Vielleicht ist er auch gar nicht hier.
Ganz unbemerkt ist er total
in die Erinnerung versunken.
Das Bier bleibt stehen. Ungetrunken
verfliegt der Schaum und es wird schal.

Sein letztes
Bier - zum letzten Mal.
.
__________________
.

Im Forum findet sich in unserer "Eiland-Bibliothek" jetzt ein "Virtueller Schiller-Salon" mit einer Einladung zur "Offenen Tafel".

Dieser Salon entstammt einer Idee von unserem Forenmitglied Thomas, der sich über jeden Beitrag sehr freuen würde.



Geändert von Stimme der Zeit (22.09.2011 um 18:19 Uhr)
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Alt 20.09.2011, 08:06   #2
wolo von thurland
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hallo sdz
es wird dich kaum überraschen, dass mir so was gefällt. wenn auch etwas sehr dramatisch gestaltet mit dem unbemerkten hinscheiden.
ich möchte anregen: das lakonisch-melancholische stück nicht ohne empathie wäre eine tolle erste strophe für eines der typischen sdz-epen, einfach ein bisschen ernster.
dann fiele hingegen die ein wenig melodramatische (gerade auch mit der verdopplung) letzte zeile weg. was mich persönlich nicht reute.
eine leichte retouche sehe ich möglich bei:

Das Bier bleibt stehen. Ungetrunken.
Der Schaum verfliegt. Das Bier wird schal.
(Übrigens: Sagt man das so? Schaum "verfliegt", so ohne Wind?)

gruss von wolo/wilma
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Alt 20.09.2011, 22:15   #3
Falderwald
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Moin Stimme,

nach dem Lesen entfaltet der Titel erst seine ganze Wirkung, sozusagen als Nachbrenner, denn er erhält einen bitteren Beigeschmack.
Ist ein schales Bier schon keine schöne Vorstellung, so steht der Begriff "Abgestanden" für einen alten Menschen synonym für nutzlos, verbraucht und einsam.
Ein trauriges Schicksal, was sich für viele alte Menschen am Ende ihres Lebens erfüllt.

Einige von ihnen müssen tatsächlich in eine Wirtschaft gehen, um noch einmal unter Menschen zu kommen und somit zumindest noch ein wenig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.

Das habe ich auch früher zu meinen aktiven Kneipenzeiten oft beobachten können.

Und so entsteht auch beim Lesen des Textes ein "altbekanntes" Bild vor meinen Augen.
Ich sehe den alten Mann alleine an seinem Tisch sitzen. (Ich kannte tatsächlich einen solchen alten Mann, Eugen hieß er. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, ich gehe aber davon aus, daß er nicht mehr lebt, weil er damals vor 25 Jahren schon weit über siebzig war.)
Vor sich hat er ein Bier stehen und er scheint in Gedanken versunken, so, als sei er gar nicht anwesend.
Es vergeht ein wenig Zeit, langsam, und man sieht es nur an der Schaumkrone des Bieres, die stetig abnimmt, weil die kleinen Bläschen unhörbar zerplatzen und ihr gasgefüllter Inhalt verfliegt.

Und nach einiger Zeit mehr wird jedem Beobachter klar, daß dies tatsächlich das letzte Bier dieses alten Mannes war.

Sehr schön fand ich Zeile drei, wo sich schon andeutet, daß er vielleicht gar nicht mehr hier ist.
Ebenfalls gelungen ist Zeile sieben, weil hier gezeigt wird, wieviel Zeit diese kleine Szene in Anspruch nimmt.
Ein gut gezapftes Pils behält seine Schaumkrone etwa fünf Minuten und ist wohl nach weiteren 20 Minuten schon relativ schal, weil auch das meiste der restlichen Kohlensäure verflogen ist.

Und den Titel möchte ich in seiner Zweideutigkeit auch als gelungen bezeichnen, was ich bei einem so kurzen Text auch sehr wichtig finde.

Eine Anmerkung sei mir noch erlaubt:

Ich würde statt "Ein alter Mann" mit "Der alte Mann" beginnen.
Damit wäre nicht nur die Doppelung "ein" in den ersten beiden Zeilen beseitigt, sondern auch dieser ganz bestimmte alte Mann bezeichnet, der den Protagonisten in dieser kurzen Szene spielt, wenn auch ziemlich passiv.

Alles in allem ein kleiner, aber gelungener Text.


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt 22.09.2011, 18:13   #4
Stimme der Zeit
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Hi, Faldi,

Zitat:
nach dem Lesen entfaltet der Titel erst seine ganze Wirkung, sozusagen als Nachbrenner, denn er erhält einen bitteren Beigeschmack.
Ist ein schales Bier schon keine schöne Vorstellung, so steht der Begriff "Abgestanden" für einen alten Menschen synonym für nutzlos, verbraucht und einsam.
Ein trauriges Schicksal, was sich für viele alte Menschen am Ende ihres Lebens erfüllt.
zuerst hatte ich als Arbeitstitel „Altbier“, habe das aber rasch wieder verworfen. Ich grübelte also (wie immer an Titeln) herum und kam ganz zufällig darauf: Als ich das Wort „schal“ noch einmal las, dachte ich, abgestanden klänge auch nicht schlecht, würde aber nicht in Reim und Metrum passen – und da hatte ich ihn.

Wie du weißt, wuchs ich (in meiner Generation bereits „untypisch“), mit Großeltern und Urgroßmutter, also einer „kleinen Großfamilie“ auf, bis ich nicht ganz 12 Jahre alt war. Für meine Großmutter war es selbstverständlich, sich um ihre Mutter zu kümmern, schließlich hatte diese es umgekehrt ja ebenfalls getan.) Heute jedoch vereinsamen viele alte Menschen, für sie ist in der „Jugendwahn-Gesellschaft“ kein Platz mehr. Wer nichts mehr „leistet“, hat keinen Wert mehr. Traurig, aber wahr. Abgestanden bedeutet eben auch abgenutzt und verbraucht, daher erschien es mir als sehr passend ...

Zitat:
Einige von ihnen müssen tatsächlich in eine Wirtschaft gehen, um noch einmal unter Menschen zu kommen und somit zumindest noch ein wenig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Der alte Mann in diesem Gedicht steht natürlich auch „stellvertretend“ für ein weibliches Äquivalent, nur dass eine alte Frau wohl eher in einem Café zu finden wäre.

Zitat:
Das habe ich auch früher zu meinen aktiven Kneipenzeiten oft beobachten können.

Und so entsteht auch beim Lesen des Textes ein "altbekanntes" Bild vor meinen Augen.
Ich sehe den alten Mann alleine an seinem Tisch sitzen. (Ich kannte tatsächlich einen solchen alten Mann, Eugen hieß er. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, ich gehe aber davon aus, daß er nicht mehr lebt, weil er damals vor 25 Jahren schon weit über siebzig war.)
Ich habe mehr Erfahrung mit Restaurants und Cafés. Und nicht selten lasse ich mich auf ein „Schwätzchen“ ein. Ich, eine Fremde, als Ausweg, um irgend jemanden zum Reden zu haben. Eugen sprach sicher auch mit dir, nehme ich an. Die alten Leutchen sitzen immer alleine an einem Tisch.

Zitat:
Vor sich hat er ein Bier stehen und er scheint in Gedanken versunken, so, als sei er gar nicht anwesend.
Es vergeht ein wenig Zeit, langsam, und man sieht es nur an der Schaumkrone des Bieres, die stetig abnimmt, weil die kleinen Bläschen unhörbar zerplatzen und ihr gasgefüllter Inhalt verfliegt.
Sie lesen auch äußerst selten, jedenfalls konnte ich das so gut wie nie beobachten. Nein, sie wollen nur - wenigstens „indirekt“ - "dabei" sein, am Leben „teilnehmen“. Der Alte im Gedicht ist vielleicht zuerst wirklich „in Gedanken versunken“. Alte Menschen schlafen oft im Sitzen ein, daher mag der „Unterschied“ zunächst wohl niemandem auffallen.

Die Kohlensäure im Bierschaum verfliegt, der Leben alter Menschen ebenfalls. Verfliegen ist Umgangssprache, eigentlich zerfällt Bierschaum.

Aber „Zerfall“ sagte mir nicht so zu. Dein Antwortgedicht im Geburtstagsfaden ließ mich dieses Wort wählen. Je älter man wird, desto schneller „verfliegt“ auch die Zeit, ein Jahr „fliegt vorüber“ und ist schon um, ehe man sich versieht. So unbemerkt wie die Kohlensäure in der Luft verfliegt, so unbemerkt verflog das restliche Leben des alten Mannes. So wenig wie der Schaum konnte der schwach gewordene Körper und vielleicht auch sein einsames Gemüt den „Inhalt der Bläschen“ festhalten ... Der Schaum, das Leben, die Zeit, der Mann – hätte ich „zerfällt“ gewählt, würde die Andeutung des Zeitbezugs nicht passen, die Zeit vergeht, verweht, verfliegt – aber sie „zerfällt“ nicht.
Zitat:
Und nach einiger Zeit mehr wird jedem Beobachter klar, daß dies tatsächlich das letzte Bier dieses alten Mannes war.
Irgendwann aber „spüren“ die anderen Lokalbesucher wohl etwas, oder der Wirt fragte ihn, ob er noch ein Bier möchte – so wird dann bemerkt, dass es das letzte Bier des alten Mannes und sein letzter Aufenthalt im Lokal war.

Zitat:
Sehr schön fand ich Zeile drei, wo sich schon andeutet, daß er vielleicht gar nicht mehr hier ist.
Danke, denn diese Andeutung beabsichtigte ich. Wie oben beschrieben, lässt sich im Nachhinein nicht sagen, wann die Versunkenheit zu etwas anderem wurde. „Hier“ war er ohnehin nicht, so, so oder so gesehen.
Zitat:
Ebenfalls gelungen ist Zeile sieben, weil hier gezeigt wird, wieviel Zeit diese kleine Szene in Anspruch nimmt.
Ein gut gezapftes Pils behält seine Schaumkrone etwa fünf Minuten und ist wohl nach weiteren 20 Minuten schon relativ schal, weil auch das meiste der restlichen Kohlensäure verflogen ist.
Ich gebe zu, dass ich hoffte, es käme „einigermaßen hin“, denn ich musste schätzen. Mein letztes Glas Bier ist mal wieder eine Weile her, das war im April (glaube ich). Nicht, dass ich es als „Bildungslücke“ betrachte, aber Wissen ist Wissen, jetzt weiß ich also etwas über Bier, das ich zuvor nicht wusste.

Zitat:
Und den Titel möchte ich in seiner Zweideutigkeit auch als gelungen bezeichnen, was ich bei einem so kurzen Text auch sehr wichtig finde.
Danke, und was den „kurzen Text“ betrifft: Ich ging weder mit dem Gedanken an einen langen noch an einen kurzen Text an das Thema heran, es ergab sich schlicht von selbst.

Es gibt Gedichte, wo ich ganz bewusst „aufhöre“ (wer hat heutzutage schon Lust, etwas zu lesen, das mehr als maximal 4-6 Strophen hat?), aber hier war es nach 8 Versen „zu Ende“. Im Nachhinein finde ich die Kürze recht passend, denn: Wäre es beispielsweise in der Lokalzeitung mehr als eine kleine Randnotiz? Der Betrieb geht weiter, in der Kneipe und „draußen“. Deshalb auch mein Versuch, es beinahe „beiläufig“ zu schildern, denn genau so beiläufig geschehen solche oder ähnliche Vorfälle. Eben „am Rande“ der allgemeinen Wahrnehmung. Wie viele alte Menschen liegen tage- oder sogar wochenlang tot in ihren Wohnungen, bevor es dann - und das ist so grausig, wie es klingt - durch den Verwesungsgeruch endlich bemerkt wird?

Zitat:
Eine Anmerkung sei mir noch erlaubt:

Ich würde statt "Ein alter Mann" mit "Der alte Mann" beginnen.
Damit wäre nicht nur die Doppelung "ein" in den ersten beiden Zeilen beseitigt, sondern auch dieser ganz bestimmte alte Mann bezeichnet, der den Protagonisten in dieser kurzen Szene spielt, wenn auch ziemlich passiv.
Ich verstehe, was du meinst. Deshalb werde ich eine Variante mit „Der alte Mann“ hinzufügen. Aber ich wollte schon, dass es ein Mann heißt. Gerade weil es so beiläufig geschieht, weil es so „beliebig oft“ geschieht, an „beliebig vielen“ Orten. „Ein alter Mann“ soll für „viele alte Männer (und Frauen)“ ein sinnbildlicher „Platzhalter“ sein. Das gilt auch für „ein Bier“, das für all die vielen „anderen Biere“, irgendwo auf dieser Welt auf einem irgendeinem Wirtshaustisch steht ...

Eben irgendein alter Mensch und irgendein schales Bier, die beide abgestanden sind, im Laufe der Zeit ...

Und ja, passiv, das ist in mehrfacher Hinsicht „richtig“.

Zitat:
Alles in allem ein kleiner, aber gelungener Text.
Vielen Dank für dein Lob und deinen ausführlichen, interessierten Kommentar!

Liebe Grüße

Stimme
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