19.02.2012, 12:35 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Fort -Schritte
Sie macht mir Angst, die neue Zeit:
Mit ihrem grellen Formen bricht sie bedrängend in mein Haus und setzt zu hohe Normen. Sie macht mir Angst, die neue Zeit: Sie gibt nichts auf das Alte, erdrückt mit Selbstverständlichkeit, das, was ich wohl verwalte. Sie macht mir Angst, die neue Zeit, denn sie hat alle Rechte: Im Raum, nach dem sie lauthals schreit, bleibt kaum noch Platz fürs Echte. Sie macht mir Angst, die neue Zeit: Sie lebt so sehr im Außen, dass sie das Innen übersieht. Es bleibt zu Vieles draußen. Sie lebt am Leben sich vorbei: Dann zählt nur noch Getue. Ich schweige. Denn dies Marktgeschrei: Das sind nicht meine Schuhe.
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Cogito dichto sum - ich dichte, also bin ich! |
19.02.2012, 15:38 | #2 |
asphaltwaldwesen
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wie mir das aus der seele spricht, liebe larin!
der fortschrittsglaube ist dermaßen übermächtig in der menschheit als "gemeinschaft" - angekurbelt von der wirtschaft. altes, bewährtes, gar noch mit gebrauchsspuren - was gilt das schon? da wird entsorgt, ersetzt, erneuert. schneller, funktionaler, effektiver, raum- und personalsparender gemacht, was das zeug hält. entmenschlicht. bloß, dass es keiner wahrnimmt - zumindest nicht auf der erkenntnis-ebene. wahrgenommen wird es schon, behaupte ich: als druck, dem man sich - ob man möchte oder nicht - beugt, um mithalten zu können. als angst, entsorgt zu werden, wenn man sich zu alten methoden bekennt oder an ihnen festhält. als unbewusste angst, in seiner menschlichkeit verloren zu gehen. das wird dann ersatzbefriedigungsweise hereinzuholen versucht durch flucht in esoterisches, in fantasy-welten, in künstlich erzeugtes sentiment. hauptsache, man kann noch irgendwo fühlen. sich und ein drumherum, das mit einem harmoniert. ja - es sind immer-weiter-fort-schritte von uns selbst. und zwar mit siebenmeilenstiefeln - ohne, dass einer erkennt oder eingestehen möchte, dass unser eigenes tempo uns viel zu schnell ist. dein gedicht bringt es auf den punkt. in all der beklemmung, die es in mir auslöst - das "moderne, fortschrittliche leben". "gerne" gelesen kann ich nicht sagen. aber mit einem zustimmenden nicken, das von ganz tief innen kommt und hofft, es mögen auch noch viele andere erkennen, was du beschreibst. herzliche grüße deine fee
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"Gedichte sind Geschenke an die Aufmerksamen" Paul Celan |
19.02.2012, 22:47 | #3 |
TENEBRAE
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Hi, Larin!
Erinnerst mich ein wenig an Rilke's "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort". Ansonsten hat Fee es wunderbar auf den Punkt gebracht! Sehr gern gelesen! LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
20.02.2012, 00:07 | #4 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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hallo fee,
ich muss zugeben: lange habe mich mit mir gerungen, ob ich diese "panik-attacke" meinerseits tatsächlich in das forum einstellen soll. ein teil von mir wundert sich immer noch, dass ichs getan bzw. dass ich sowas überhaupt geschrieben habe! verflixt, was ist passiert? da gab es doch mal eine zeit, da wurde jeder neue frühling und jede neue mode mit großem jubel begrüßt - alles neue war aufregend und interessant. und jetzt? da scheint wohl eine schere aufgegangen zu sein zwischen dem tempo, das die "neue zeit" draufhat und der eigenen entwicklungsgeschwindigkeit ( oder sollte man sagen : jene langsamkeit, in die man selber mehr und mehr hineingeraten ist.) au weia! ist das ein zeichen schlimmer materialermüdung? wahrscheinlich doch: das ist beginnende "alteisenphobie!" seufz. andererseits: das "marktgeschrei" war ja noch nie das meine, auch als "jungmetallene" nicht. jammern hilft aber nicht weiter. wie sagte da doch der kabarettist karl farkas? "wer nicht mit der zeit geht, muss mit der zeit gehen." so isses. daher sieht sich der weise rechtzeitig nach dem passenden schuhwerk um! denn wenn der schuh, den man anhat, zu sehr drückt, kann man dem zeitgeist bestenfalls hinterdrein watscheln. keine angenehme vorstellung. im übrigen hat die "neue zeit" ja auch ihre guten seiten (z.b. lyrik-foren ) danke jedenfalls für deine anteilnahme! hallo erich, im ersten moment musste ich über deine antwort sehr schmunzeln und dachte mir: gibt es irgendetwas, das dich NICHT an rilke erinnert? aber bei näherer betrachtung muss ich dir recht geben: tatsächlich existieren da gewisse parallellen zwischen den beiden gedichten ( obwohl ich nichts weiter im sinn hatte, als meiner eigenen panik luft zu machen) zu tode gefürchtet ist aber auch gestorben. letztlich musste sich noch jeder durch die zeit, in die er hineingeboren war, durchwursteln, um seiner jugendzeit verlustig zu gehen und sich im alter möglicherweise deplaciert zu fühlen. auch dies ist kein einzelschicksal. ein berühmter schreiber, der diesen zustand auch verdichtet hat,war stefan zweig. ("die welt von gestern"). aber - was solls? irgendwann ist auch die fiktivste zukunft vergangenheit - und das moderne ist uraltmodisch geworden. sprachs, ließ sich drei neue graue haare wachsen und grinste wieder vergnüglich, lg, larin
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Cogito dichto sum - ich dichte, also bin ich! |
20.02.2012, 22:22 | #5 | ||
Slawische Seele
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Beiträge: 5.637
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Liebe Larin,
mir auch. Und hier Zitat:
Wenn es aus der umsichtigen, verstehenden Larin ausbricht, dann muss es wahr sein, zumindest ein großer Teil. Du hast die "neue, fremde Schnelllebigkeit" nicht gestoppt, aber in die Stammtischrunde geworfen und ich wünschte, sie würde würde "bremsend" wirken. Auf allen Ebnen spiegelt sich ein Tempo wider, das kaum noch mit Leben und Erleben zu tun hat. Es macht Angst, weil es längst nicht mehr darum geht, am gesteckten Ziel zu verweilen (ich bin schon vorsichtig mit dem Satz: Am Ziel zu ruhen und zu genießen), sondern flexibel zu bleiben und weiter zu rennen für den Fall, dass man sich geirrt hat, weil wieder NEUES gilt. Ich könnte unendliche Beispiele aufzeigen und lasse es, weil ich denke, wir meinen dieselben. Zitat:
Ein Gedicht, dass mir aus der Seele spricht und ich bin froh, dass es dich so echt übermannt hat und du es gepostet hast. Auch ist hier kein "Orakeln" angebracht, wohin das Ganze führen kann. Jedes Ding hat seine Zeit und jede Zeit ihre Beobachter. Die Geschichte wird einmal Antworten geben, wenn sie dafür Zeit bekommt. Mit sehr nachdenklichen Stammtischgrüßen, Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben. (Frederike Frei) |
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23.02.2012, 21:35 | #6 | |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Beiträge: 4.893
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Zitat:
"objektive" richtigkeit ergibt sich erst dann, wenn die überwiegende mehrzahl der menschen ebenso denkt. (zumindest ist das wahrgenommene dann mehrheitsfähig - erst dann kann es wohl auch gesellschaftlich relevant werden.) heute hat mich ein pelzüberzogener entschleuniger vor dem schlimmsten bewahrt! (wenn ich meine katze nicht hätte, käme ich wohl ganz auf den hund!) liebe grüße, danke auch für deine überlegungen, larin
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