12.05.2017, 11:01 | #1 |
Gelegenheitsdichter
Registriert seit: 09.11.2009
Ort: Im Wilden Süden
Beiträge: 3.210
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Im Grau des halben Tags
Im Grau des halben Tags
Die Worte sinken in die weichen Kissen. Dort, wo du lagst, verschwinden sie im Warmen. Die Hoffnung wog so leicht in deinen Armen. Ich weiß, ich werde beides sehr vermissen. Die Vögel üben sich in Feindalarmen. Man sieht den Milan weiße Fahnen hissen, Die beiden Krähen jagen ihn verbissen: Sie kennen mit dem Nestraub kein Erbarmen. Im Grau des halben Tags kommt Angst in Schüben, Da selbst die Mücken vor dem Stich verrecken. Das Fenster in die Welt beginnt zu trüben: Als sich die Sterne hinterm Mond verstecken, Muss ich das Traurigsein erst wieder üben Und weiß nicht mehr, wie‘s geht, das Wundenlecken.
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Dichtung zu vielen Gelegenheiten -
mit einem leichtem Anflug von melancholischer Ironie gewürzt Alle Beiträge (c) Walther Abdruck von Werken ist erwünscht, bedarf jedoch der vorherigen Zustimmung und der Nennung von Autor und Urheberrechtsvorbehalt Geändert von Walther (13.05.2017 um 19:25 Uhr) |
12.05.2017, 19:09 | #2 |
TENEBRAE
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Beiträge: 8.570
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Hi Walther!
Eindeutig mein neues Lieblingsgedicht von dir! Hier warst du mal wieder höchst wohlbestrahlt - ein wirklich saugutes Sonett, kann ich nur sagen! Die Wortbilder, beinahe lapidar aufgezählt, als fügte sich der erzählende Geist bereits wieder in die weitere Leere seines Daseins, sind so intensiv und wohlgesponnen, dass man sich direkt in das erkaltende Fühlen des Protagonisten versetzt fühlt - und gleichzeitig auf einem anderen Stern zu sein glaubt, so herrlich schräg - und dennoch sofort in ihrer Unmittelbarkeit verständlich - sind manche der Bilder: Im "Warmen, wo du lagst" versinkende Worte, Vögel, die Feindalarme geben, die weiße Fahne des Milan, vor dem Stich verreckende Mücken, der graue Tag, der nur ein halber ist, sich hinter dem Mond versteckende Sterne - welche Überfülle an interessanten, unverbrauchten Phrasierungen voll tiefgreifender Metabotschaften! Das ist lyrische Topliga von Allerfeinsten! Ein großer Wurf, und das sage ich nicht ohne leisen Neid! Einzig S2Z4 erscheint mir ein wenig ungenau formuliert: "Sie (die Krähen) kennen mit dem - hier müsste eigentlich "Nesträuber" stehen, wenn man dem "mit dem" folgt - kein Erbarmen." Deine Version ist nicht per se falsch, wirkt aber sprachlich uneleganter. Wenn es um den Nestraub, also die Tat selbst geht, sollte es heißen: "Sie kennen wegen des Nestraubs (oder, metrisch passend: ob des Nestraubs) kein Erbarmen." Und: "Wundenlecken" würde ich zusammen schreiben. Allergernst gelesen und bewundert! Von der Sorte kannst du jederzeit gern jede Menge mehr liefern! LG, eKy (beeindruckt)
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. Geändert von Erich Kykal (12.05.2017 um 20:55 Uhr) |
12.05.2017, 19:29 | #3 |
Gast
Beiträge: n/a
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da schließe ich mich gerne Erich an. Wirklich ein sehr schönes Sonett, Walter.
LG von oko |
13.05.2017, 19:21 | #4 |
Gelegenheitsdichter
Registriert seit: 09.11.2009
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lb Koko, der bescheidene sonetter dankt für das freundliche wort. lg W.
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13.05.2017, 19:25 | #5 |
Gelegenheitsdichter
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Beiträge: 3.210
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lb eKy,
danke für dieses lob aus wirklich berufenem munde! das freut selbstredend "saumäßig" - nachdem ich mit meinen sonettbüchern so einen schiffbruch erlitten habe (nicht die kritik, der verlag ist das problem), tut es gut, eine solche rückkopplung zu erhalten. man könnte "Nestraub" durch "Räuber" ersetzen, das würde jedoch den sinn dieser metapher reduzieren, denn dem prota wurde ja etwas aus seinem nest gestohlen. auch hinter diesem bild steht also eine überlegung ... das "Wundenlecken" kann man in der tat zusammenschreiben. ich habe das angepaßt. lg W.
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17.05.2017, 10:44 | #6 |
Erfahrener Eiland-Dichter
Registriert seit: 30.08.2010
Beiträge: 181
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Oh Mann, Walther,
das gefällt mir ausnehmend gut! Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen. Sprachlich, bis auf die eine Ausnahme mit der nicht so eleganten Formulierung Sie kennen mit dem Nestraub kein Erbarmen perfekt, wie ich finde. Dann hast du es auch noch geschafft, den Text die Form des Sonettes zu bringen ohne dass er "eingezwängt" wirkt. Der letzte Vers traf mich mitten ins Herz - wirklich gelungen. Beste Grüße vEdenA
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Mein Buch "Leitersprossen" ISBN-10: 3853060501 ISBN-13: 978-3853060506 - oder per PN ! |
17.05.2017, 12:51 | #7 |
Gast
Beiträge: n/a
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Hallo Walther,
Ich habe dein Gedicht bestimmt schon 10 mal gelesen, weil es so besonders ist!
Die Naturbilder, der Milan, die Krähen und Mücken gemischt mit Wortwendungen Kissen, "im Warmen" in ein Liebesgedicht zu packen, kann nicht jeder! ( das Herz ist für das Gedicht, weil es so schön ist) Ich schließe mich dem Lob der anderen an. Der letzte Vers rundet die Stimmung und läßt mich seufzen. Wunderschön! Liebe Grüße sy Geändert von juli (18.05.2017 um 12:41 Uhr) |
19.05.2017, 16:31 | #8 | |
Gelegenheitsdichter
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Beiträge: 3.210
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Zitat:
danke, vielmals danke für die freundliche bewertung meines sonettversuchs. der vers, den du bemängelst, liegt auch eKy im magen. den grund für ihn habe ich oben erläutert. ich versuche immer wieder, die form nicht zum hemmschuh werden zu lassen. manchmal gelingt's - aber leider nicht immer. lg W.
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19.05.2017, 16:33 | #9 | |
Gelegenheitsdichter
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Zitat:
die natur ist für mich wichtiger stichwortgeber und metaphernlieferant. damit greife ich auf die poesiegeschichte zurück - das war früher die regel, dieser rückgriff. ich danke dir sehr für deinen eintrag, der dieses stilmittel ausdrücklich benennt! lg W.
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21.05.2017, 11:10 | #10 |
Gast
Beiträge: n/a
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mir gefällt das Sonett auch gut, Walter. Gerade der Wechsel zwischen pragmatischer, fast lakonischer Sprache und Bildern macht einen gewissen Reiz aus, der es erfreulich vom "Jammergedicht" abgrenzt. Gut gelungen.
LG von Koko |
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